BGH zum „Einwirken“ im Sinne des § 176 StGB

Der Bundesgerichtshof hat in einem Beschluss vom 22. Juni 2010 (3 StR 177/10) eine Entscheidung zum Begriff des „Einwirkens“ auf ein Kind im Sinne des § 176 StGB getroffen. Auch für das heute oft verfolgte Phänomen des „Cybergroomings“ ist diese Entscheidung wichtig. Weiterlesen

Bundesgerichtshof: Sexuelle Belästigung gem. § 184i StGB nur bei entsprechendem Vorsatz des Beschuldigten

Beschluss des BGH vom 15. November 2017, Aktenzeichen 5 StR 518/17

Der Bundesgerichtshof hat eine Selbstverständlichkeit bestätigt: Sexuelle Belästigung im Sinne des § 184i StGB liegt nur dann vor, wenn der Beschuldigte davon ausgeht, dass er eine andere Person „belästigt“. Weiterlesen

Der Bundesgerichtshof zum Begriff der sexuellen Belästigung im Sinne des § 184i StGB

Sowohl als auch: Der Begriff der „sexuellen Belästigung“ ist nach der  Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einzelfallabhängig nach subjektiven und objektiven Maßstäben zu messen. Diese Entscheidung zeigt, wie schwierig sich der Umgang mit der Vorschrift des § 184i StGB  in der Praxis darstellt.

BGH, Beschluss vom 13.3.2018–4 StR 570/17

Zum Sachverhalt

Das LG Essen hat mit Urteil vom 22.6.2017 die Angekl. S wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen sexueller Belästigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und den Angekl. B wegen Beihilfe zur Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es den Mitangekl. K, der keine Revision eingelegt hat, wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen ihre Verurteilung wandten sich die Angekl. S und B mit ihren jeweils auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen.

Die Rechtsmittel führten zur Aufhebung des Urteils, die sich gem. § 357 Satz 1 StPO auf den Mitangekl. K erstreckte; die Sache wurde an eine andere Strafkammer des LG zurückverwiesen.

Aus den Gründen

Die Verurteilung der Angekl. S und B im Zusammenhang mit dem Tatgeschehen zum Nachteil des Nebenkl. L hat keinen Bestand.

Die Verurteilung der Angekl. S wegen sexueller Belästigung gem. § 184 i StGB zum Nachteil der Polizeibeamtin St hält rechtlicher Nachprüfung ebenfalls nicht stand.

Diese Verurteilung beruht im Wesentlichen auf folgenden Feststellungen des LG:

Nachdem die Angekl. S am 11.2.2017 aufgrund des vorgenannten Geschehens festgenommen worden war, wurde sie in den Räumen einer Polizeiwache in G. – in Anwesenheit der geschädigten Polizeibeamtin St – von einer weiteren Polizeibeamtin körperlich durchsucht. Die Angekl., der die Durchsuchung missfiel, rief der Geschädigten zu: „Und Du willst wohl auch gleich in meine Fotze gucken? Soll ich auch in Deine greifen?“ Dabei griff sie der Geschädigten mit einer schnellen Bewegung in den Schritt und kniff sie dort schmerzhaft. Die Geschädigte war hierdurch schockiert; der Vorfall war ihr peinlich, und sie ekelte sich sehr.

Zwar sind die objektiven und subjektiven Voraussetzungen des Straftatbestands der sexuellen Belästigung iSd § 184i Absatz 1 StGB erfüllt. Das LG hat indes nicht geprüft, ob der Strafbarkeit die Subsidiaritätsklausel dieser Vorschrift entgegensteht.

Gemäß § 184i Absatz 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wenn nicht die Tat in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.

Zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals der körperlichen Berührung „in sexuell bestimmter Weise“ iSv § 184i Absatz 1 StGB – diese Vorschrift ist durch das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4.11.2016 (BGBl. I 2016, Seite 2460) eingeführt worden – hat sich der BGH bislang nicht geäußert (zum Verhältnis der Vorschrift zu § 184h StGB vgl. BGH, NStZ-RR 2017, Seite 277 und NStZ 2018, Seite 91 = StV 2018, Seite 238.  Im Schrifttum werden insoweit unterschiedliche Auslegungsansätze vertreten.

Teile der Literatur bestimmen den Begriff „in sexuell bestimmter Weise“ anhand objektiver Umstände und verlangen, dass sich der Sexualbezug aus der Berührung als solcher ergeben müsse – diese müsse nach ihrem äußeren Erscheinungsbild eine sexuelle Konnotation aufweisen (vgl. MüKoStGB/Renzikowski, 3. Aufl., § 184 i Rn. 8 ders., NJW 2016, Seite 3553; SK-StGB/Noltenius, 9. Aufl., § 184 i Rn. 6; Hörnle, NStZ 2017, Seite 13; Hoven/Weigend, JZ 2017, Seite 182;  in diese Richtung auch Krug/Weber, ArbR 2018, 59 [60]). Zur Bestimmung des Sexualbezugs werden als Kriterien genannt die soziokulturell bestimmte Bedeutung der berührten Körperstelle (MüKoStGB/Renzikowski, § 184 i Rn. 8, ders., NJW 2016, Seite 3553) sowie der Umstand, dass für den in Rede stehenden Körperkontakt typischerweise das Bestehen einer intimen Beziehung vorausgesetzt werde [Hörnle, NStZ 2017, Seite 13,; SK-StGB/Noltenius, §184 i Rn. 6).

Nach anderer – weiter gehender – Auffassung soll das Vorliegen einer Berührung „in sexuell bestimmter Weise“ anhand der Auslegungskriterien zu bestimmen sein, welche die Rechtsprechung zum Begriff der sexuellen Handlung nach § 184h Nummer 1 StGB entwickelt hat (Fischer, StGB, 65. Aufl., § 184 i Rn. 4-5 a; in diese Richtung auch BeckOK StGB/Ziegler, 1.2.2018, § 184 i Rn.4 und 5); demnach könne eine Berührung sowohl objektiv – nach dem äußeren Erscheinungsbild – als auch subjektiv – nach den Umständen des Einzelfalls – sexuell bestimmt sein, wobei es allerdings nicht ausreiche, dass die Handlung allein nach der subjektiven Vorstellung des Täters sexuellen Charakter habe (Fischer, §184 i Rn. 4-5 a).

Der Senat folgt der letztgenannten Ansicht. Mit Blick auf § 184h Nummer 1 StGB sprechen für diese Auslegung insbesondere systematische Erwägungen. Zudem wird sie durch den Wortlaut sowie Sinn und Zweck der neuen Strafvorschrift gestützt.

 Für eine Maßgeblichkeit der zum Begriff der sexuellen Handlung gem. § 184h StGB entwickelten objektiven und subjektiven Kriterien spricht zunächst der weitgefasste Wortlaut des § 184i  StGB. Dieser verlangt lediglich, dass die belästigende Berührung überhaupt einen Sexualbezug aufweist („in sexuell bestimmter Weise“), schränkt aber die hierfür maßgeblichen Umstände in keiner Weise ein. Es kommt hinzu, dass beide Vorschriften – unmittelbar aufeinanderfolgend – im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs geregelt sind und einheitlich dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung dienen.

Weiter spricht für die Übertragung der zu § 184 h Nummer 1 StGB entwickelten Grundsätze auf den Straftatbestand der sexuellen Belästigung das Anliegen des Gesetzgebers, mit § 184i StGB solche Handlungen zu pönalisieren, die mangels Erreichen der Erheblichkeitsgrenze zwar keine sexuellen Handlungen iSd § 184 h StGB darstellen, aber gleichwohl sexuell belästigend wirken (vgl. BT-Drs. 18/9097, 30). Der Gesetzgeber sah sich also maßgeblich durch die Erheblichkeitsgrenze des § 184h Nummer 1 StGB veranlasst, den Tatbestand der sexuellen Belästigung einzuführen, um auch weniger gravierende Handlungsformen strafrechtlich zu erfassen (ebenso BGH, NStZ-RR 2017, S. 277 und NStZ 2018,Seite 91= StV 2018, Seite 238. Ausgehend von diesem Anliegen ist es jedoch folgerichtig, den – von der Erheblichkeitsfrage zu trennenden – Sexualbezug der Berührung so zu bestimmen wie bei der sexuellen Handlung gem. § 184 h Nummer 1 StGB, zumal der Gesetzgeber diesbezüglich keinen ergänzenden Regelungsbedarf sah.

Einer solchen Auslegung steht nicht die weitere Gesetzesbegründung zu § 184 i Absatz 1 StGB entgegen, wonach eine Berührung in sexuell bestimmter Weise erfolge, wenn sie sexuell motiviert sei; dies liege nahe, wenn der Täter das Opfer an den Geschlechtsorganen berühre oder Handlungen vornehme, die typischerweise eine sexuelle Intimität zwischen den Beteiligten voraussetze (BT-Drs. 18/9097, 30).

Danach wäre der Sexualbezug einer Berührung grundsätzlich anhand der subjektiven Tatseite zu bestimmen und müsste stets mit einer sexuellen Motivation des Täters einhergehen; die äußere Handlung könnte lediglich als Beweisanzeichen für eine entsprechende Motivation herangezogen werden (vgl. zu einem entsprechenden Verständnis der Gesetzesbegründung Hörnle, NStZ 2017, S.13). Eine solche maßgeblich mit der Tätermotivation verknüpfte Auslegung stünde jedoch in Widerspruch zu Sinn und Zweck des § 184 i StGB. Schutzgut dieser Vorschrift ist das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung (vgl. BT-Drs. 18/9097, 30; MüKoStGB/Renzikowski, § 184 i Rn.1; NK-StGB/Frommel, 5. Aufl., § 184 i Rn.2; SK-StGB/Noltenius, § 184 i Rn. 2). Verlangte man für die Strafbarkeit aber stets eine sexuelle Tätermotivation, würde dies den Tatbestand der sexuellen Belästigung in erheblichem Maße einschränken, da gerade bei den von § 184i StGB ins Auge gefassten Berührungen (vgl. BT-Drs. 18/9097, 29 f.: ua flüchtiger Griff in den Schritt, „Begrapschen des Gesäßes“) häufig keine eigentliche sexuelle Motivation des Täters – insbesondere in Form eines angestrebten Lustgewinns – feststellbar sein wird. Vielmehr werden solche Berührungen oftmals aus anderen Gründen erfolgen, etwa um das Gegenüber zu belästigen, zu demütigen oder durch Distanzlosigkeit zu provozieren. An der Beeinträchtigung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung ändert sich hierdurch aber nichts.

Dementsprechend steht es nach ständiger Rechtsprechung bei Verhaltensweisen, die bereits nach ihrem äußeren Erscheinungsbild die Sexualbezogenheit erkennen lassen, der Annahme einer sexuellen Handlung gem. § 184h Nummer 1 StGB nicht entgegen, dass der Täter nicht von sexuellen Absichten geleitet ist, sondern aus Wut, Sadismus, Scherz oder zur Demütigung seines Opfers handelt (vgl. BGHSt 60, Seite 52=NJW 2014, Seite 3737= NStZ 2015, Seite 33); BGH, NStZ-RR 2008, SEitte 339; BGHSt 39, Seite 212=NJW 1993, Seite 2252= BGHR StGB § 178 Abs. 1 sexuelle Handlung 6; BGH, NStZ 1983, Seite 167, BGHSt 29, Seite 336; KoStGB/Hörnle, § 184 h Rn. 7 mwN). Diese Grundsätze gelten nach Auffassung des Senats auch für die Auslegung von § 184i Absatz 1 StGB, soweit es sich um eine bereits nach den äußeren Umständen sexualbezogene Berührung handelt. Der teilweise in eine andere Richtung weisenden Gesetzesbegründung ist keine bewusste Abkehr von den vorgenannten Grundsätzen zu entnehmen. Der Gesetzgeber hatte Fallgestaltungen äußerlich eindeutig sexualbezogener Körperkontakte bei fehlender sexueller Motivation offenbar lediglich nicht im Blick.

Auch eine rein objektive Auslegung, nach der sich der Sexualbezug allein aus dem äußeren Erscheinungsbild der Berührung als solcher ergeben müsse (vgl. MüKoStGB/Renzikowski, § 184 i Rn.8; Hörnle, NStZ 2017, Seite 13]; ähnlich SK-StGB/Noltenius, § 184 i Rn. 6 und Hoven/Weigend, JZ 2017, Seite 182), würde den gesetzgeberischen Zweck der Vorschrift verfehlen. Gerade im Bereich von Körperkontakten unterhalb der Erheblichkeitsgrenze des § 184h Nummer 1 StGB sind zahlreiche Formen äußerlich ambivalenter Berührungen denkbar, die aber bei Kenntnis aller Umstände, unter Berücksichtigung des gesamten Handlungsrahmens und nach ihrem sozialen Sinngehalt in einem eindeutigen sexuellen Kontext erscheinen. Hierbei können insbesondere sexuelle Absichten des Täters (etwa gezieltes Herandrängen an eine andere Person in öffentlichen Verkehrsmitteln, um sich hieran zu erregen – vgl. hierzu Fischer, § 184 i Rn. 5) oder flankierende Äußerungen (vgl. BGH, NStZ 2002, Seite 431; StV 1997, Seite 524) von Bedeutung sein.

Eine Berührung in sexuell bestimmter Weise ist demnach zu bejahen, wenn sie einen Sexualbezug bereits objektiv, also allein gemessen an dem äußeren Erscheinungsbild, erkennen lässt. Darüber hinaus können auch ambivalente Berührungen, die für sich betrachtet nicht ohne Weiteres einen sexuellen Charakter aufweisen, tatbestandsmäßig sein. Dabei ist auf das Urteil eines objektiven Betrachters abzustellen, der alle Umstände des Einzelfalls kennt; hierbei ist auch zu berücksichtigen, ob der Täter von sexuellen Absichten geleitet war. Insofern gilt im Rahmen von § 184i StGB nichts anderes als bei der Bestimmung des Sexualbezugs einer Handlung gem. § 184h Nummer 1 StGB.

Gemessen daran ist die Annahme des LG, die Angekl. habe den Tatbestand des § 184i StGB objektiv und subjektiv erfüllt, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Die Angekl. hat die Geschädigte nach den Urteilsfeststellungen gezielt in den Schritt – also in den Bereich des primären Geschlechtsorgans – gekniffen. Hierdurch ergibt sich bereits nach dem äußeren Erscheinungsbild ein Bezug zum Geschlechtlichen (vgl. für Berührungen im Bereich der primären Geschlechtsorgane im Ergebnis übereinstimmend: BT-Drs. 18/9097, 30; Fischer, § 184 i Rn. 4; MüKoStGB/Renzikowski, § 184 i Rn. 8; Hörnle, NStZ 2017, S.13). Dieser sexuelle Bezug wurde, ohne dass es hierauf noch maßgeblich ankäme, verstärkt durch die begleitende Äußerung der Angekl., aus welcher sich ergibt, dass gerade die Intimsphäre der Geschädigten als Reaktion auf die eigene, als störend empfundene körperliche Durchsuchung verletzt werden sollte.

Da sich eine Berührung in sexuell bestimmter Weise bereits hinreichend aus den äußeren Umständen ergibt, ist es unerheblich, dass keine sexuelle Motivation der Angekl. festgestellt ist, sondern sie naheliegend allein aus Renitenz und zur Provokation der Geschädigten handelte.

Die Angekl. hat die Geschädigte durch das Kneifen in den Schritt auch iSv § 184 Absatz 1 StGB belästigt. Im Rahmen dieser Vorschrift reicht nicht jede Form von subjektiv empfundener Beeinträchtigung als tatbestandsrelevante Belästigung aus. Angesichts des Schutzguts der im 13. Abschnitt verorteten Strafnorm und ihrer amtlichen Überschrift muss es sich vielmehr gerade um eine „sexuelle Belästigung“ handeln, bei welcher die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers tangiert ist (vgl. BT-Drs. 18/9097, 30; Fischer, § 184 i Rn. 6; BeckOK StGB/Ziegler, § 184 i Rn. 8 ). Eine solche sexuelle Belästigung ist dem angefochtenen Urteil hinreichend zu entnehmen, da festgestellt ist, dass die Geschädigte den Vorfall als peinlich empfand und sich ekelte.

Da die Berührung im Schritt der Geschädigten ohne Weiteres geeignet war, sexuell belästigend zu wirken, braucht der Senat vorliegend nicht zu entscheiden, ob es allein auf das individuelle Empfinden des Tatopfers ankommt (idS Fischer, § 184 i Rn. 6; BeckOK StGB/Ziegler, § 184 i Rn. 7; Hoven/Weigend, JZ 2017, Seite 182; so auch für § 183 StGB LK-StGB/Laufhütte/Roggenbuck, 12. Aufl., § 183 Rn. 4) oder ob zusätzlich eine aus objektiver Perspektive zu bestimmende Eignung zur Belästigung vorliegen muss (vgl. MüKoStGB/Renzikowski, § 184 i Rn. 10; SK-StGB/Noltenius, § 184 i Rn. 6; eine objektive Eignung der Handlung zur Belästigung wird teils auch im Rahmen von § 183 StGB gefordert: vgl. MüKoStGB/Hörnle, § 183 Rn. 12; Heger in Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl., § 183 Rn. 3). Angesichts der tatbestandlichen Reichweite von § 184i StGB neigt der Senat jedoch der Auffassung zu, dass es nicht allein auf das subjektive Empfinden des Opfers ankommt, sondern dass die Berührung auch bei einer wertenden Betrachtung objektiv geeignet sein muss, sexuell belästigend zu wirken (in diese Richtung weist auch die Gesetzesbegründung, wonach bloße Ärgernisse, Ungehörigkeiten oder Distanzlosigkeiten „nicht ohne Weiteres dazu geeignet seien, die sexuelle Selbstbestimmung zu beeinträchtigen“, BT-Drs. 18/9097, 30).

Die Angekl. S handelte auch vorsätzlich. Insoweit reicht es aus, dass sich der Täter des sexuellen Charakters seines Tuns bewusst ist (vgl. BGH, BGHR StGB § 184 i Abs. 1 Tathandlung 1 ) zum Begriff der sexuellen Handlung BGHSt 60, Seite 52]; BGHSt 39, Seite 212 = NJW 1993, Seite 2252= BGHR StGB § 178 Abs. 1 sexuelle Handlung 6; Fischer, § 184 h Rn. 10; MüKoStGB/Renzikowski, § 184 h Rn.7). Ein entsprechender Vorsatz ist den Feststellungen zu entnehmen und im Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe belegt, da die Angekl. der Geschädigten gezielt in den Schritt kniff und den Sexualbezug bewusst durch ihre begleitende Äußerung unterstrich.

Allerdings lässt das angefochtene Urteil die gebotene Auseinandersetzung damit vermissen, dass eine Strafbarkeit wegen sexueller Belästigung nach § 184 i Absatz 1 StGB ausscheidet, wenn die Tat in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.

Aus der uneingeschränkt auf „andere Vorschriften“ verweisenden Subsidiaritätsklausel ergibt sich, dass § 184i StGB von allen Strafvorschriften mit schwererer Strafandrohung verdrängt wird und nicht nur von solchen des 13.Abschnitts des Strafgesetzbuchs (vgl. Fischer, § 184 i Rn. 16; MüKoStGB/Renzikowski, § 184 i Rn. 14; SK-StGB/Noltenius, § 184 i Rn. 13). Zwar verweist die Gesetzesbegründung in diesem Zusammenhang nur auf Straftatbestände, die eine mit § 184i StGB „vergleichbare Schutzrichtung aufweisen“ (BT-Drs. 18/9097, 30). Dieser gesetzgeberische Wille hat aber im Wortlaut des § 184i StGB keinen Niederschlag gefunden und ist damit unbeachtlich, da der Wortlaut die äußerste Grenze der Auslegung ist (vgl. SK-StGB/Noltenius, § 184 i Rn. 13; MüKoStGB/Renzikowski, § 184 i Rn.14, vgl. zur entsprechend weiten Auslegung der Subsidiaritätsklausel im Rahmen von § 246 Absatz1 StGB: BGHSt 47,  Seite 243; so auch zu § 125 StGB StGB aF: BGHSt 43, Seite 237] = NJW 1998, Seite 465).

Im angefochtenen Urteil werden, obwohl sich dies aufgedrängt hat, etwaige vorrangige Tatbestände nicht geprüft. Aus den Feststellungen ergibt sich, dass die Angekl. S die Geschädigte „schmerzhaft“ kniff, was das Vorliegen einer Körperverletzung gem. § 223 Absatz1  StGB – dieses Delikt ist mit schwererer Strafe bedroht als § 184i Absatz 1 StGB – nahelegt. Dass es sich um eine bloß unerhebliche körperliche Einwirkung handelte (vgl. hierzu BGHSt 53, Seite 145, BGH, NStZ 2007, S.404; MüKoStGB/Joecks, § 223 Rn. 22ff.), ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Hierüber vermag der Senat nicht abschließend zu befinden, zumal das Urteil auch keine Beweiswürdigung zum Schmerzempfinden der Geschädigten enthält.

Die Verurteilung nach § 184i  StGB anstatt (möglicherweise) nach § 223 Absatz1 StGB beschwert die Angekl. trotz des höheren Strafrahmens der letztgenannten Vorschrift.

Aus einem zu milden Schuldspruch ergibt sich dann eine Beschwer, wenn das vom Tatrichter angewandte Strafgesetz völlig verschieden ist von demjenigen, welches in Wahrheit verletzt wurde (vgl. BGHSt 8, Seite 34 = NJW 1955, Seite 1407; Franke in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 354 Rn. 22; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 354 Rn. 17). Dies muss auch gelten, wenn der Strafbarkeit lediglich die formelle Subsidiarität einer Vorschrift entgegensteht, da auch das Nichteingreifen der Subsidiaritätsklausel Voraussetzung der Strafbarkeit ist.

Dementsprechend kann hier der Schuldspruch wegen sexueller Belästigung keinen Bestand haben, da sich die Schutzgüter von § 184i StGB und dem möglicherweise verwirklichten § 223 StGB – namentlich die sexuelle Selbstbestimmung und die körperliche Unversehrtheit – deutlich voneinander unterscheiden. Zudem stellt die Strafkammer in ihren Strafzumessungserwägungen zum zweiten Tatkomplex allein auf Gesichtspunkte ab, welche mit dem Vorliegen eines gegen die sexuelle Selbstbestimmung gerichteten Straftatbestandes in Zusammenhang stehen. Auch wenn die Verwirklichung eines formell subsidiären Delikts bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden kann (vgl. BGHSt 6, Seite 25 = NJW 1954, Seite 810,  BGH, Beschl. v. 16.9.2010 – Fischer, vor § 52 Rn. 45), vermag der Senat nicht auszuschließen, dass sich die Strafkammer angesichts der nicht unbeträchtlichen Strafhöhe gerade von einem entsprechenden Schuldspruch wegen sexueller Belästigung hat leiten lassen.

Rechtsanwalt Vergewaltigung Berlin: Keine Strafschärfung durch die Erfüllung des Tatbestandes der Vergewaltigung selbst

Rechtsanwalt Vergewaltigung Berlin Anwalt Fachanwalt

Als Rechtsanwalt in Berlin und Fachanwalt für Strafrecht erlebe ich oft, dass die Erfüllung eines Tatbestandes als unzulässiges Strafkriterium herangezogen wird, insbesondere in Fällen mit dem Vorwurf der Vergewaltigung Rechtsanwalt Vergewaltigung Berlin Anwalt Fachanwalt

Rechtsanwalt Vergewaltigung Berlin: Keine Strafschärfung durch die Erfüllung des Tatbestandes der Vergewaltigung selbst

Als Rechtsanwalt in Berlin verteidige ich seit über 22 Jahren in Verfahren mit dem Vorwurf der Vergewaltigung, seit 2001 bin ich Fachanwalt für Strafrecht in Berlin. In dem unten dargestellten Urteil geht es erneut um die eigentlich selbstverständlich zu verneinende Frage, ob die Erfüllung eines bestimmten Tatbestandes (hier: Vergewaltigung) schon für scih genommen eine höhere Strafe zulässt. Als Anwalt erlebe ich diese Situation häufig, ob wohl die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wie auch das Gesetz eindeutig ist:

 

BGH (1. Strafsenat), Beschlussvom 28.06.2018- 1 StR171/18

Auch nach neuem Recht darf der Umstand, dass der Angeklagte die Tat gegen den Willen des Opfers begangen hat, nicht zu einer Strafverschärfung führen.

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 20. November 2017  a) im Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass

aa) der Angeklagte im Fall B.6. der Urteilsgründe wegen Vergewaltigung verurteilt ist,

bb) im Fall B.7. der Urteilsgründe die tateinheitlichen Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung sowie wegen Bedrohung entfallen und er wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung und mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis verurteilt ist;

b) im Strafausspruch aufgehoben

aa) soweit die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten (u.a. für die Fälle B.1.-4. der Urteilsgründe) nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist,

bb) hinsichtlich der für die Fälle B.6. und B.7. der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen sowie der (weiteren) Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren (für die Taten B.5.-7. der Urteilsgründe).

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen drei Fällen der vorsätzlichen Körperverletzung, in einem davon in Tateinheit mit Bedrohung, sowie wegen Bedrohung in zwei tateinheitlichen Fällen (Fälle B.1.-4. der Urteilsgründe) unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus einer früheren Verurteilung und Auflösung der dortigen Gesamtfreiheitsstrafe zu einer (ersten) Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt. Darüber hinaus ist er wegen vorsätzlicher Körperverletzung, wegen sexueller Nötigung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung sowie mit Bedrohung und mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis (Fälle B.5.-7. der Urteilsgründe) schuldig gesprochen und gegen ihn eine weitere Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verhängt worden.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit mehreren ausgeführten sachlich-rechtlichen Beanstandungen. Das Rechtsmittel erzielt lediglich den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg . Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Absatz 2 StPO.

. Den zu sämtlichen verfahrensgegenständlichen Taten getroffenen Feststellungen liegt bei Anlegung des einschlägigen revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (siehe nur BGH, Urteil vom 22. November 2016,1 StR 194/16  eine jeweils rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung zugrunde. Die Revision zeigt mit ihrem Vorbringen weder Lücken noch Widersprüche in der tatrichterlichen Würdigung auf. Das Landgericht konnte seine Überzeugung von der Glaubhaftigkeit der Aussagen der geschädigten Zeugin D. insgesamt gerade auch darauf stützen, dass deren Angaben in einem Teil der Fälle durch andere Beweismittel Bestätigung gefunden haben.

Nach den zum Fall B.6. der Urteilsgründe getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte gegen den von ihm erkannten entgegenstehenden Willen der Zeugin D. vaginalen Geschlechtsverkehr an ihr vollzogen und damit das Regelbeispiel aus § 177 Absatz 6 Nummer 1 verwirklicht. Wie der Generalbundesanwalt zutreffend aufgezeigt hat, muss deshalb der Schuldspruch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (etwa BGH, Beschluss vom 22. März 2017, 3 StR 475/16 ) auf „Vergewaltigung“ statt auf „sexuelle Nötigung“ lauten. Der Senat hat die entsprechende Abänderung selbst vorgenommen.

Im Fall B.7. der Urteilsgründe hält der auf „gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung in Tateinheit mit Bedrohung in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis“ lautende Schuldspruch in mehrfacher Hinsicht rechtlicher Überprüfung nicht stand. Dies bedingt Änderungen des Schuldspruchs und die Aufhebung des Einzelstrafausspruchs sowie der unter dessen Einbeziehung gebildeten Gesamtstrafe von drei Jahren.

Die zugehörigen Feststellungen belegen nicht die Voraussetzungen einer gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Absatz 1 Nummer 2 StGB. Ein gefährliches Werkzeug im Sinne der vorgenannten Vorschrift ist jeder bewegliche Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und der Art seiner Benutzung im konkreten Einzelfall geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen (st. Rspr.; BGH aaO Rn. 17 mwN). Eine solche Eignung des vom Angeklagten in der Hand gehaltenen Cutter-Messers nach dessen konkreter Verwendung lassen die Urteilsgründe nicht erkennen. Nach den Feststellungen versetzte der Angeklagte der geschädigten Zeugin D. zu verschiedenen Zeitpunkten innerhalb eines einheitlichen Geschehens in einem Kraftfahrzeug zahlreiche Schläge mit der flachen Hand oder dem Handrücken in das Gesicht. Bei einem dieser Schläge hat er ein ansonsten als Drohmittel verwendetes Cutter-Messer in der Hand gehalten, so dass es zu einer Verletzung am Augenlid der Zeugin gekommen ist (UA S. 15).Rechtsanwalt Vergewaltigung Berlin Anwalt Fachanwalt

Dem kann ein Einsatz des Messers als Stich- oder Schnittwerkzeug nicht entnommen werden, was regelmäßig die erforderliche Eignung begründen würde. Auch lassen weder die Feststellungen noch die sonstigen Urteilsgründe erkennen, dass der Angeklagte das Cutter-Messer bei Ausführung des Schlages in der Hand gehalten hat, um die Schlagwirkung lediglich eines einzelnen von insgesamt wenigstens 20 Schlägen (UA S. 15) zu verstärken. Die Verletzungsfolge wird als Kratzer am rechten Augenlid beschrieben. Daraus kann daher nicht auf die erforderliche Eignung der konkreten Verletzungshandlung, erhebliche Verletzungen herbeizuführen, geschlossen werden. Den Darlegungen des Landgerichts zur „Beweisaufnahme“ und zur Beweiswürdigung zu dieser Tat lassen sich ebenfalls keine weitergehenden Umstände entnehmen, die die Eignung des fraglichen konkreten Schlages zur Herbeiführung erheblicher Verletzungen begründen könnten.

Da die geschädigte Zeugin D. sich bereits an die Anzahl der erlittenen Schläge nicht mehr näher zu erinnern vermochte (UA S. 37) und die Verletzungsfolge, als Grundlage für einen Rückschluss auf die erforderliche Eignung, nicht über einen Kratzer am Augenlid hinausgegangen ist, schließt der Senat die Möglichkeit weitergehender Feststellungen aus, die noch die Voraussetzungen der Qualifikation aus § 224 Absatz 1 Nummer 2 StGB begründen können. Er lässt daher in entsprechender Anwendung von § 354 StPOStPO die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung entfallen und ändert den Schuldspruch insoweit in eine vorsätzliche Körperverletzung (§ 223 StGB) ab. Deren Voraussetzungen sind durch die getroffenen Feststellungen belegt.

§ 265 StPO  StPO steht nicht entgegen, weil sich der Angeklagte nicht erfolgreicher als geschehen hätte verteidigen können.Rechtsanwalt Vergewaltigung Berlin Anwalt Fachanwalt

Die zusätzliche tateinheitliche Verurteilung wegen Nötigung und Bedrohung kann ebenfalls nicht bestehen bleiben. Auf der Grundlage der Feststellungen bestand die Nötigungshandlung des Angeklagten darin, der Geschädigten das Cutter-Messer an den Hals gehalten und sie – erfolgreich – zum Ruhigsein aufgefordert zu haben. Werden Nötigung und Bedrohung (§§ 240,241 StGB) wie hier durch dieselbe Handlung verwirklicht, tritt die Bedrohung gesetzeskonkurrierend zurück (……..)

Der Wegfall der Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung entzieht der für die Tat B.7. der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafe die Grundlage.

Die Bemessung der Einzelstrafe im Fall B.6. der Urteilsgründe enthält einen durchgreifenden Rechtsfehler bereits bei der Bestimmung des anwendbaren Strafrahmens. Das Landgericht hat von der Regelwirkung des § 177 Absatz 6, Satz 2 , Nummer 2  im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung auch deshalb nicht abgesehen, weil der Angeklagte „sich gegen den erkennbaren Willen der Zeugin genommen (habe), was er meinte einfordern zu dürfen“ (UA S. Das Handeln gegen den erkennbar entgegenstehenden Willen des Opfers ist aber bereits für die Verwirklichung des Grundtatbestands gemäß § 177 Absatz 1 StGB erforderlich und kann daher als solches  nicht als strafschärfender Aspekt berücksichtigt werden. Angesichts der sonstigen vom Landgericht herangezogenen Strafzumessungskriterien vermag der Senat nicht auszuschließen, dass es ohne den Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot zu einem anderen Ergebnis bei der Strafrahmenbestimmung gelangt wäre. Rechtsanwalt Vergewaltigung Berlin Anwalt Fachanwalt

Die Aufhebung der beiden vorgenannten Einzelstrafen bedingt auch die Aufhebung der Gesamtstrafe für die Taten B.5.-7. der Urteilsgründe.

 Die Ablehnung der Aussetzung der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten zur Bewährung erweist sich selbst unter Berücksichtigung der lediglich begrenzten revisionsgerichtlichen Überprüfung tatrichterlicher Aussetzungsentscheidungen (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Mai 2016 –StraFo 2016, 425 und Urteil vom 6. Juli 2017, 4 StR 415/16) als durchgreifend fehlerhaft.

Das Landgericht hat die Ablehnung ausschließlich auf das Fehlen besonderer Umstände im Sinne von § 56 Absatz 2 StGB gestützt, ohne eine Legalprognose gemäß § 56 Absatz 1 StGB  zu stellen. Damit hat es aber seine Grundlage für die Beurteilung „besonderer Umstände“ rechtsfehlerhaft verkürzt. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann die Frage einer günstigen Prognose auch für die Beurteilung bedeutsam sein, ob Umstände von besonderem Gewicht vorliegen (es folgen weitere Zitate)  Dass vorliegend eine weitere, nicht aussetzungsfähige Gesamtstrafe verhängt worden ist, ändert an diesen Anforderungen grundsätzlich nichts, zumal die zweite Gesamtstrafe ihrerseits nicht rechtsfehlerfrei gebildet worden ist.

16Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung der Entscheidung über die Aussetzung der ersten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten. Über die Aussetzungsfrage kann der neue Tatrichter unabhängig von den zugrunde liegenden Schuld- und sonstigen Strafaussprüchen befinden.

Gegebenenfalls wird er ergänzende, für die Prognose gemäß § 56 Absatz 1 StGB  StGB bedeutsame Feststellungen zu treffen haben.

Bundesgerichtshof: Vertretungslehrer begeht keinen sexuellen Mißbrauch

Ein heikler Fall: Kann ein Lehrer, der eine Schülerin nur in einigen Fällen als Vertretungslehrer unterrichtet hat und sie ansonsten nur innerhalb einer freiwilligen außerschulischen Arbeitsgemeinschaft betreut, sexuellen Mißbrauch begehen? Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Landgerichts in diesem Fall aufgehoben, weil es ihm hierzu an ausreichenden Feststellungen fehlte. Ein Beispiel für die in der Praxis der Verteidigung von Sexualstraftaten oft wichtigen Frage nach dem notwendigen „Obhutsverhältnis“ des § 174 StGB StGB

BGH,Beschluss vom25. 4. 2012-4 StR 74/12(LG Bochum)

Zum Sachverhalt:

Der Angekl. war vom Jahr 2000 bis zu seiner Suspendierung vom Dienst am 11. 3. 2011 Sport- und Erdkundelehrer an einer Realschule. Zusätzlich bildete er für das Deutsche Rote Kreuz seit dem Jahr 2002 im Rahmen eines zusätzlichen, von ihm im Einvernehmen mit Schulaufsicht und Schulleitung eingerichteten freiwilligen Schulsanitätsdienstes Schüler und Schülerinnen ab der Klassenstufe 6 zu Schulsanitätern aus. Dabei handelte es sich um ein zusätzliches Angebot der Schule außerhalb des verpflichtend erteilten Unterrichts in Form einer Arbeitsgemeinschaft, weshalb eine Teilnahme daran lediglich ohne Benotung im Zeugnis vermerkt wurde. Der Angekl. war ferner von 2003/2004 bis zum 31. 12. 2010 Leiter des Deutschen Jugend-Rot-Kreuzes (DJRK) in W. Die im Tatzeitraum (22. 10. 2010 bis 4. 3. 2011) überwiegend 14 und zuletzt 15 Jahre alte Geschädigte besuchte die Realschule, an der der Angekl. tätig war. Er war jedoch weder ihr Klassenlehrer noch unterrichtete er sie, von Vertretungsfällen in nicht näher festgestelltem Umfang abgesehen, in einem bestimmten Fach. Seit dem Jahr 2008 nahm die Geschädigte an dem vom Angekl. veranstalteten Schulsanitätsdienst sowie – in ihrer Freizeit – an den von ihm geleiteten Gruppenstunden im DJRK in W. teil.

Infolge der Trennung ihrer Mutter von ihrem Stiefvater, mit dem sie ein sehr enges Vertrauensverhältnis verbunden hatte, entwickelte die Geschädigte seit Februar 2009 eine massive Essstörung und magerte erheblich ab. Im Sommer 2010 aß sie fast nichts mehr und begann, sich durch Ritzen selbst zu verletzen. Zwischen dem Angekl., der ihre schlechte Verfassung bemerkt und ihr seine Hilfe angeboten hatte, und der Geschädigten, die sich daraufhin dem Angekl. zuwandte und ihm rückhaltlos von ihren privaten Problemen berichtete, entstand in der Folgezeit eine enge persönliche Beziehung, in der es nach dem Austausch bloßer Zärtlichkeiten in der Zeit vom 22. 10. 2010 bis zum 4. 3. 2011 zu den abgeurteilten sexuellen Handlungen kam. Der Angekl. gab der Geschädigten in einem Fall einen Zungenkuss, veranlasste sie in 3 Fällen dazu, bei ihm den Oralverkehr auszuführen und führte in 8 Fällen den vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr durch, in einem Fall zusätzlich den Analverkehr.

2. Das LG hat angenommen, die Geschädigte sei dem Angekl. in dessen Eigenschaft als Lehrer zur Erziehung und zur Ausbildung i.S.d. § STGB § 174 STGB § 174 Absatz I Nr. 1 StGB anvertraut gewesen, auch wenn er sie nicht selbst unterrichtet, sondern allenfalls Vertretungsstunden in ihrer Klasse gegeben habe. Er habe sie außerdem im Rahmen des Schulsanitätsdienstes, also aus Anlass einer schulischen Veranstaltung, ausgebildet und sei auch als Leiter einer Jugendgruppe beim DJRK ihr Ausbilder gewesen.

Das LG hat den Angekl. wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 12 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision des Angekl., mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügte, hatte im Wesentlichen Erfolg.

Aus den Gründen:

II. Die Annahme eines Obhutsverhältnisses i.S.d. § 174 Absatz 1 Nummer 1 Nr. 1 StGB wird von den bisherigen Feststellungen des LG nicht getragen.

1. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das LG angenommen, dass die berufliche Stellung des Angekl. als Lehrer an der Schule, die die Geschädigte als Schülerin besuchte, ein Obhutsverhältnis zu ihr unter bestimmten Voraussetzungen ebenso zu begründen vermag wie seine Tätigkeit als Veranstalter der von der Geschädigten wahrgenommenen Arbeitsgemeinschaft „Schulsanitätsdienst” oder als Leiter einer Jugendgruppe beim DJRK, deren Mitglied die Geschädigte war. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ist Voraussetzung eines Obhutsverhältnisses i.S.d. §§ 174 Absatz 1 Nummer 1 Nr. 11 StGB eine Beziehung zwischen Täter und Opfer, aus der sich für den Täter das Recht und die Pflicht ergibt, Erziehung, Ausbildung oder Lebensführung des Schutzbefohlenen und damit dessen geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten (vgl. nur BGH Beschl. v. 31. 1. 1967 – BGH 1 StR/595/65, BGHSt 21, Seite 196, NStZ 2003, Seite 661). Ein die Anforderungen der Vorschrift erfüllendes Anvertrautsein setzt ein den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich erfassendes Abhängigkeitsverhältnis des Jugendlichen zu dem jeweiligen Betreuer im Sinne einer Unter- und Überordnung voraus (BGH Beschl. v. 21. 4. 1995 –3 StR 526/94, BGHSt 41, Seite 137). Es kann daher außer im schulischen Bereich auch in anderen, den Verhältnissen an einer Schule vergleichbaren Fällen vorliegen, etwa im Einzel- oder im Mannschaftssport (BGH Urt. v. 3. 4. 1962 – BGHSt 17 Seite 191[Fußballtrainer]; Senatsbeschl. v. 26. 6. 2003 aaO [Tennistrainer]), ebenso in einem anderweitigen Ausbildungsverhältnis (BGH Beschl. v. 31. 1. 1967 aaO [Fahrlehrer]). Maßgebend sind indes in jedem Fall die konkreten, tatsächlichen Verhältnisse (BGH Urt. v. 30. 10. 1963 – BGHSt 19,Seite 163,  Beschl. v. 31. 1. 1967 aaO, S. 202; Senatsbeschl. v. 26. 6. 2003, aaO; SSW-StGB-Wolters § 174 Rn 6). Mag sich daher die Obhutsbeziehung mit dem von der Strafvorschrift vorausgesetzten Anvertrautsein bei einem Lehrer im Verhältnis zu den von ihm als Klassen- oder Fachlehrer unterrichteten Schülern von selbst verstehen, kann es bei Vorliegen anderer Fallgestaltungen genauerer Darlegung der erforderlichen Voraussetzungen bedürfen. So liegt es hier.

2. a) Nach den Feststellungen des LG war der Angekl. weder Klassen- noch Fachlehrer in der Klasse der Geschädigten, sondern erteilte lediglich Vertretungsunterricht. Danach versteht sich insoweit ein Obhutsverhältnis nicht von selbst. Jedenfalls an größeren Schulen mit einem für den einzelnen Schüler nur schwer überschaubaren Lehrerkollegium ergibt es sich nicht schon aus der bloßen Zugehörigkeit von Lehrern und Schülern zu derselben Schule, sondern regelmäßig erst mit der Zuweisung eines Schülers an einen bestimmten Lehrer, der dadurch die in §§ 174 Absatz 1 Nummer 1 Nr. 1  StGB vorausgesetzten Pflichten übernimmt (so BGH Urt. v. 30. 10. 1963, aaO; anders für den Leiter einer Schule BGH Urt. v. 24. 11. 1959 – BGHSt 13, Seite 352 Welchen Umfang die Vertretungstätigkeit des Angekl. in der Klasse der Geschädigten hatte, ergibt sich aus den Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht.

b) Zwar kann die Annahme eines Obhutsverhältnisses zwischen Lehrer und Schüler auch unabhängig von der eigentlichen Unterrichtserteilung entstehen, etwa bei Aufsichtstätigkeiten oder im Rahmen besonderer Veranstaltungen der Schule, zu denen auch die Durchführung einer von den Schulbehörden genehmigten, nicht zum regulären Unterricht zählenden Arbeitsgemeinschaft zählt. Ob die Ausrichtung des Schulsanitätsdienstes unter der persönlichen Leitung des Angekl. die Voraussetzungen einer solchen Obhutsbeziehung erfüllt, ist jedoch ebenfalls nicht ausreichend dargetan. Zwar steht dem die Freiwilligkeit der Teilnahme an dieser Veranstaltung nicht entgegen (BGH Urt. v. 3. 4. 1962 – BGH 5 StR 74/62, BGHSt 17, SEite 191 . Gleichwohl fehlt es an näheren Feststellungen zur Häufigkeit der Durchführung und dazu, ob der Angekl. diese Arbeitsgemeinschaft auch noch nach seinem Ausscheiden aus dem DJRK mit Ablauf des 31. 12. 2010 fortführte.

Insoweit begegnet es auch durchgreifenden rechtlichen Bedenken, wenn die StrK die Tätigkeit des Angekl. als Leiter einer Gruppe im DJRK, der auch die Geschädigte angehörte, zur Begründung des Obhutsverhältnisses herangezogen hat. Wie bereits erwähnt, beendete der Angekl. diese Tätigkeit mit Ende des Jahres 2010; jedenfalls die Taten in den Fällen II. 6 bis II. 12 der Urteilsgründe, die die StrK zeitlich nach dem ersten Geschlechtsverkehr („an einem nicht näher bestimmbaren Donnerstag im Dezember 2010 oder Januar 2011”) einordnet, ereigneten sich demnach in einem Zeitraum, in dem der Angekl. beim DJRK nicht mehr tätig war. Ein „nachwirkendes” Obhutsverhältnis erfüllt den Tatbestand des §§ 174 Absatz 1 Nummer 1 Nr. 1 StGB nicht (Senatsbeschl. v. 26. 6. 2003, NStZ 2003, Seite 661)

BGH zur „Erheblichkeit“ einer sexuellen Handlung gemäß § 184h StGB

In einer Entscheidung vom Mai 2017 hatte sich der Dritte Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit der Frage der Erheblichkeit einer sexuellen Handlung im Sinne des § 184h StGB zu befassen. Die Entscheidung zeigt, wie sehr es hier bei auf den Einzelfall ankommt:

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts-zu 2. auf dessen Antrag -am 16.Mai 2017 gemäß §349 Abs.2 und 4StPO einstimmig beschlossen:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 26.Oktober 2016 jeweils mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben a)soweit der Angeklagte im Fall III. 1. b) der Urteilsgründe ver-urteilt worden ist,b)im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-tels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen und Besitzes kinderpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten verurteilt und das Notebook des Angeklagten nebst Netzteil eingezogen. Seine dagegen gerichtete auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§349 Abs. 2 StPO).

1. Das Urteil hat keinen Bestand, soweit der Angeklagte im FallIII.1.b) der Urteilsgründe wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern verur-teilt worden ist.a) Nach den hierzu getroffenen Feststellungen spielte der Angeklagte mit der neunjährigen Zeugin G.“Mensch ärgere Dich nicht“. Als sich die Zeugin über den Schoß des Angeklagten beugte, um eine heruntergefallene Spielfigur aufzuheben, fasste der Angeklagteihr über der Kleidung an die Scheide. b) Diese Feststellungen tragen eine Verurteilung des Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern (§176 Abs.1, §176a Abs.1 StGB) nicht. Denn das bloße Berühren des Geschlechtsteils über der Kleidung ist nicht ohne weiteres als sexuelle Handlung im Sinne des §184h Nr.1 StGB -zur Tatzeit noch §184g Nr.1 StGB-anzusehen. Zwar ist in der Handlung des Angeklagten nach ihrem äußeren Erscheinungsbild der danach erforderliche sexuelle Bezug zu erkennen (vgl. dazu etwa BGH, Urteil vom 24.September 1980 -3StR 255/80, BGHSt 29, 336, 338); es fehlt aber an Feststellungen, welche die insoweit erforderliche Erheblichkeit belegen.aa) Als erheblich im Sinne von §184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbe-zogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 24.September 1980 -3StR 255/80, BGHSt 29, 336, 338; vom 24.September 1991 -5StR 364/91, NJW 1992, 324; vom 1.Dezember 2011 -5StR 417/11, 2345, NStZ 2012, 269, 270; vom 10.März 2016 -3StR 437/15, NJW 2016, 2049). Zur Feststellung der Erheblichkeit bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (BGH, Urteile vom 3.April 1991 -2 StR 582/90, BGHR StGB § 184c Nr.1 Erheblichkeit4; vom 24.September 1991 -5 StR 364/91, NJW 1992, 324f.; vom 1.Dezember 2011 -5 StR 417/11, NStZ 2012, 269, 270; vom 21.September 2016 -2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44).Bei Tatbeständen, die -wie §176 Abs.1 StGB-dem Schutz von Kin-dern oder Jugendlichen dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit geringe-re Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestim-mung Erwachsener (BGH, Beschluss vom 13. Juli 1983 -3 StR 255/83, NStZ 1983, 553; Urteil vom 21.September 2016 -2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44). Allerdings reichen auch hier kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen, insbesondere des bekleideten Geschlechtsteils, dafür grundsätzlich nicht aus(BGH, Beschluss vom 13.Juli 1983 -3StR 255/83, NStZ 1983, 553; Urteile vom 8. Februar 1989 -3 StR 546/88, BGHR StGB §184c Nr. 1 Erheblichkeit 3; vom 3. April 1991 -2StR 582/90, BGHR StGB §184c Nr. 1 Erheblichkeit 4; vom 4. Mai 2017 -3 StR 87/17, jurisRn.9; Beschlüsse vom 10.September 1998 -1 StR 476/98, NStZ 1999, 45; vom 8.September 1999 -3 StR 357/99, juris Rn.4; vom 21.September 2005 -2StR 311/05, juris Rn.8; Urteil vom 21.September 2016 -2StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44).

Die Schwelle zur Erheblichkeit kann jedoch überschritten sein, wenn über die bloße kurze Berührung hinaus weitere Umstände hinzukommen, die das Gewicht des Übergriffes erhöhen; dies ist etwa der Fall, wenn der Täter ein sich wehrendes 8-jähriges Mädchen mit der linken Hand festhält, mit der rechten Hand zwischen die Beine des Kindes fasst und dessen bekleidetes Geschlechtsteil „einige Male streichelt“ (BGH, Urteil vom 27.Februar 1992 -4StR 23/92, BGHSt 38, 212, 213), wenn er einem 9-jährigen Mädchen „mit festem Griff“ an das bekleidete Geschlechtsteil fasst (BGH, Urteil vom 6.Mai 1992 -2 StR 490/91, BGHR StGB § 184c Nr.1 Erheb-lichkeit 6) oder wenn er einen 13-jährigen Jungen in ein Gebüsch zerrt und ihn, während er ihn fest umklammert, „an das bekleidete Geschlechtsteil fasst“ so-wie dabei teilweise „fest drückt“ (BGH, Urteil vom 17.November 1999 -2StR 453/99, NStZ-RR 2000, 299). bb)

Nach diesen Maßstäben hält die Wertung des Landgerichts, der Griff an das bekleidete Geschlechtsteil im Fall III.1.b) der Urteilsgründe stelle eine erhebliche sexuelle Handlung im Sinne von §184h Nr. 1 StGB dar, rechtlicher Überprüfung nicht stand. Feststellungen zur Intensität oder Festigkeit des Griffes hat die Strafkammer nicht getroffen; auch die Art der Bekleidung (nur leichte Kleidung oder ggf. mehrere Schichten) wird nicht mitgeteilt. Hinsichtlich der Dauer der Berührung lässt sich dem Urteil nur entnehmen, dass die Strafkammer den Angaben der Zeugin gefolgt ist, wonach es „nicht so lange“ gewesen sei, „sie habe das aber gemerkt“, sei sich aber nicht sicher gewesen, ob der Angeklagte sie absichtlich an der Scheide angefasst habe. Ein spezifisch sexualbezogener Handlungsrahmen, eine Beeinträchtigung der Fortbewegungsfreiheit oder ein sonst erhebliches Einwirken auf das Opfer sind somit nicht festgestellt. Die kurze Berührung des Geschlechtsteils oberhalb der Kleidung allein vermag die Wertung des Landgerichts, der Angeklagte habe damit in einem erheblichen Maße in die geschützte ungestörte Entwicklung des Kindes einge-griffen und diese in einem nicht nur unbedeutenden Maße gefährdet, nicht zu tragen.

Demgegenüber liegt im Fall III. 1. c) der Urteilsgründe eine erhebliche sexuelle Handlung des Angeklagten vor:

Hierzu hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte der Zeugin G.im Schwimmbad von unten an die nur mit einem Bikinihöschen bekleidete Scheide griff, als sich die Zeugin in einenSchwimmring setzte. In dieser Situation war die spärlich bekleidete Zeugin dem Zugriff des Angeklagten bei eingeschränkter Abwehr-oder Flucht-möglichkeit ausgeliefert. Zwar konnte die Strafkammer auch hier nur eine relativ kurze Berührung feststellen, allerdings war der Griff in die leichtbekleidete intime Körperzone in diesem Fall so intensiv und deutlich spürbar, dass die Zeugin keinerlei Zweifel an dem zielgerichteten Vorgehen des Angeklagten hatte; sie empfand sein Vorgehen als unangenehm und belastend und zog sich weinend und zitternd in das Badezimmer zurück, als der Angeklagte kurz darauf zu Besuch in der Wohnung ihrer Mutter erschien. Damit ist hinreichend belegt, dass der Angeklagte nicht nur eine belanglose sexualbezogene Handlung vornahm, sondern das tatbestandlich geschützte Rechtsgut in einer sozial nicht mehr hin-nehmbaren Weise gefährdete.

Im Übrigen hat die rechtliche Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

Der reine Verdacht weiterer Sexualstraftaten darf nicht zu einer höheren Bestrafung führen.

In dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs wird klargestellt: Der reine Verdacht, der Angeklagte habe weitere unbestimmte Sexualstraftaten begangen, darf nicht zu einer höheren Bestrafung führen.

Bundesgerichtshof,  Beschluss vom 21. Dezember 2017 Aktenzeichen  4 StR 351/17

Der 4.Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 21.Dezember 2017 gemäß §349 Abs.2 und 4 StPO beschlossen

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hagen vom 10.März 2017 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-tels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung (§177 Abs.1 Nr.1, Abs.2 Satz2 Nr.1 StGB aF) in zwei Fällen zu einer Gesamtfrei-heitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des §349 Abs.2 StPO.

Die sachlich-rechtliche Überprüfung des Urteils hat im Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagtenergeben.

2. Der Strafausspruch kann dagegen nicht bestehen bleiben.a)Das Landgericht hat bei der Bemessung der beiden Einzelstrafen und der Gesamtstrafe unter anderem strafschärfend berücksichtigt, dass der Ange-klagte zwischen den beiden ausgeurteilten Taten „über einen längeren Zeitraum die Geschädigte immer wieder im Rahmen des Zwischengeschehens zum Ge-schlechtsverkehr gegen ihren Willen gezwungen hat“ (UA73). Diese Strafzu-messungserwägung begegnet durchgreifenden Bedenken. Zwar ist es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zulässig, bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass der Angeklagte noch weitere nicht abgeurteilte Straftaten begangen hat; dies gilt allerdings nur, wenn diese Taten prozessordnungsge-mäß und so bestimmt festgestellt sind, dass sie in ihrem wesentlichen Unrechtsgehalt abzuschätzen sind und eine unzulässige strafschärfende Berücksichtigung des bloßen Verdachts der Begehung weiterer Straftaten ausgeschlossen werden kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22.Mai 2013 –2StR 68/13, BGHR StGB §46 Abs.1 Begründung25; vom 9.Oktober 2003 –4StR 359/03, bei Pfister, NStZ-RR 2004,353, 359 Nr.37; vom 12.Mai 1995 –3StR179/95, NStZ 1995, 439). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht, da die Strafkammerdie weiteren Taten im Rahmen der Sachver-haltsfeststellungen zum „Zwischengeschehen“ (UA6) lediglich so allgemein und unbestimmt umschrieben hat, dass es an einer ausreichenden Tatsachengrund-lage für eine strafschärfende Berücksichtigung fehlt.

Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet auch die zu Ungunsten des Angeklagten in Ansatz gebrachte Erwägung des Landgerichts, der Angeklagte habe „die Taten im geschützten Raum der Ehe begangen“ und auf diese Weise das Vertrauen der Nebenklägerin und „deren Ängste vor dem Geschlechtsverkehr ausgenutzt“ (UA73); denn insoweit erschließt sich auch aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe nicht, worin das Landgericht ein solches Ausnutzen der Ängste der Geschädigten gesehen hat.

Rechtlichen Bedenken begegnet schließlich die strafschärfende Erwägung der Strafkammer in Bezug auf die erste Tat, dass der Angeklagte „sich damit zum ersten Mal gegen das Recht und die Achtung der sexuellen Selbst-bestimmung seines Opfers und für das Unrecht entschieden hat“ (UA73).

Diese Erwägung lässt besorgen, dass das Landgericht unter Verstoß gegen §46 Abs.3 StGB die Begehung der Tat als solche straferschwerend gewertet hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9.November 2010 –4StR532/10, NStZ-RR 2011, 271; vom 20.Juli 2010 –3StR218/10, StraFo 2010, 466; vom 1.März 2001 –4StR36/01, NStZ-RR 2001, 295; Fischer, StGB, 65.Aufl., §46 Rn.76).

Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Strafausspruch insge-samt auf den rechtsfehlerhaften Erwägungen beruht; die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe können deshalb nicht bestehen bleiben. Das neue Tatgericht wird -5-Gelegenheit haben, einen etwaigen Entfall der Regelwirkung des §177 Abs.2 StGBaF zu prüfen.

Die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs zur Prüfung der Glaubhaftigkeit eines Zeugen durch einen Sachverständigen

Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten

In einer Grundsatzentscheidung vom Juli 1999 hat der Bundesgerichtshof Mindestanforderungen an Gutachten zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit von Zeugen durch psychologische Sachverständige festgelegt. Eine Leitentscheidung, die heute noch von großer Bedeutung für das Sexualstrafrecht ist!

Wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten).

BGH, Urteil vom 30. 7. 1999-1 StR 618–98 (LG Ansbach)

Zum Sachverhalt:

Das LG hat den Angekl. wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dem lag folgendes Prozeßgeschehen zugrunde: Eine vom Gericht als Sachverständige beauftragte Diplom-Psychologin hatte die 14jährige Hauptbelastungszeugin „aussagepsychologisch“ begutachtet. Sie war zu dem Ergebnis gelangt, die Angaben des Mädchens, es sei vom Angekl., seinem Adoptivvater, über einen Zeitraum von acht Jahren sexuell mißbraucht worden, seien glaubhaft. Zum Beweis des Gegenteils beantragte die Verteidigung die Einholung eines weiteren psychologischen Sachverständigengutachtens. Zur Begründung führte sie an, das erstattete Gutachten leide an Mängeln „in der theoretischen Grundlegung und der Planung und Durchführung der psychologischen Untersuchung“ und entspreche nicht dem Stand der Wissenschaft. Die behaupteten Mängel wurden – unter Bezugnahme auf eine schriftliche Stellungnahme des Leiters der Arbeitsstelle für Forensische Psychologie der Universität Dortmund – im einzelnen bezeichnet. Das LG hat den Beweisantrag, ohne zuvor die Sachverständige zu den geltend gemachten

Mängeln ihres Gutachtens anzuhören, mit der Begründung abgelehnt, es sei aufgrund dieses Gutachtens vom Gegenteil der unter Beweis gestellten Tatsache überzeugt. Die Voraussetzungen des § 244 IV 2 Halbs. 2 StPO hat es verneint. Insbesondere die Sachkunde der sorgfältigen und forensisch erfahrenen Gutachterin stehe außer Zweifel. Die Revision des Angekl. hatte Erfolg.

Aus den Gründen:

Diese Verfahrensweise hält der – durch die zulässig erhobene Verfahrensrüge (vgl. BGH, Urt. v. 21. 4. 1998 – 1 StR 132–98; StV 1999, S. 195) veranlaßten – rechtlichen Überprüfung nicht stand. Das LG hat sich in seinem Ablehnungsbeschluß nicht in der erforderlichen Weise mit den vom Angekl. behaupteten Mängeln des Gutachtens auseinandergesetzt. Die Ablehnung des Beweisantrags wird daher den sich aus § 244 Absatz 4 und 6 StPO ergebenden Anforderungen nicht gerecht.

I. Der Beschluß, mit dem das LG die beantragte Beauftragung eines weiteren Sachverständigen abgelehnt hat, genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Er bedarf der Begründung, um den Verfahrensbeteiligten und dem RevGer. eine Nachprüfung zu ermöglichen. Das LG hat insofern lediglich angeführt, daß ihm die frühere Sachverständige als sorgfältig und forensisch erfahren bekannt ist. Eine derart knappe Begründung reicht jedoch nur dann aus, wenn die Anhörung eines weiteren Sachverständigen beantragt wird, ohne die Gründe darzulegen, aus denen sich Zweifel an der Sachkunde ergeben sollen (vgl. BGH, Urt. v. 21. 7. 1965 – 2 StR 229–65; Urt. v. 25. 1. 1977 – 1 StR 828–76; s. auch BGHSt 8, 76, [78] = NJW 1955, 1407).

Wird dagegen vom Antragsteller unter eingehender Darlegung und hier zudem unter Bezugnahme auf eine kritische Würdigung des Erstgutachtens durch einen anderen Fachvertreter auf konkrete Mängel dieses Gutachtens hingewiesen, muß sich das Gericht mit den behaupteten Einwänden im einzelnen auseinandersetzen (BGHR StPO § 244 Abs. 4 S. 2 Sachkunde 1; BGH, StV 1989; OLG Celle, NJW 1974, Alsberg–Nüse–Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl., S. 764; Herdegen, in: KK, 4. Aufl., § 244 Rdnr. 103; Kleinknecht–Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., § 244 Rdnr. 43d). Dieses Erfordernis gilt allerdings dann nicht, wenn die geltend gemachten Mängel nach anerkannten wissenschaftlichen Maßstäben offensichtlich nicht bestehen. Diese Voraussetzung ist jedoch nicht erfüllt.

II. Der Senat hat zu dieser Frage Beweis erhoben. Er hat die Sachverständigen Prof. Dr. phil. F und Prof. Dr. phil. S mit entsprechenden Gutachten beauftragt. Diese sind schriftlich sowie in der Verhandlung des Senats vom 29. 7. 1999 erstattet worden. Die Sachverständigen sind übereinstimmend zu dem Ergebnis gelangt, daß das Erstgutachten nach dem bestehenden wissenschaftlichen Kenntnisstand an – vom Angekl. in seinem Beweisantrag zumindest teilweise auch vorgetragenen – inhaltlichen (1) sowie die Darstellung betreffenden (2) Mängeln leidet. Dieser überzeugend dargelegten Einschätzung schließt sich der Senat an.

Die Feststellung dieser Mängel bezog sich allerdings zunächst auf das von der früheren Sachverständigen vorab vorgelegte schriftliche Gutachten, dessen Inhalt die Revision mitgeteilt hat. Dabei handelt es sich nur um eine vorläufige und unter dem Vorbehalt der Ergebnisse der Beweisaufnahme stehende sachverständige Stellungnahme Für die Urteilsfindung und damit für die Überprüfung des Urteils maßgebend ist dagegen stets das in der Hauptverhandlung erstattete und verwertete Gutachten. Der Senat schließt aber ausnahmsweise aus, daß die Sachverständige in der mündlichen Verhandlung in relevanter Weise von ihrem schriftlichen Gutachten abgewichen ist oder dieses wesentlich ergänzt hat (vgl. BGHSt 9, 292 [297] = NJW 1956. Soweit im Urteil des LG Erwägungen der Sachverständigen wiedergegeben werden, sind diese ohne Ausnahme bereits im schriftlichen Gutachten enthalten.

1. Begutachtung. Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung ist – wie sich bereits aus dem Begriff ergibt – nicht die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchten im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d.h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (Gutachten Prof. Dr. S; s. auch Herdegen, in: KK, § 244 Rdnr. 31). Den dafür bestehenden methodischen Mindeststandards entspricht die hier vorgenommene Begutachtung der Zeugin nicht.

a) Das methodische Grundprinzip besteht darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. Nullhypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, daß die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, daß es sich um eine wahre Aussage handelt. Die Bildung relevanter Hypothesen ist daher von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerläßlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar (Gutachten Prof. Dr. F und Prof. Dr. S; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 3. Aufl., Rdnr. 1863; Greuel–Offe–Fabian–Wetzels–Fabian–Offe–Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, S. 48ff.; Steller–Volbert, in: Steller–Volbert, Psychologie im Strafverfahren, S. 12 [23]; Deckers, NJW 1999, NJW Jahr 1999 Seite 1365 [NJW Jahr 1999 Seite 1370]; Greuel, Praxis der Rechtspsychologie, 1997, S. 154 [161]; Köhnken, MschrKrim 1997, 290 [293ff.]; allg. Westhoff–Kluck, Psychologische Gutachten schreiben und beurteilen, S. 39ff.).

aa) Beispielsweise hängt die Auswahl der für die Begutachtung in Frage kommenden Test- und Untersuchungsverfahren davon ab, welche Möglichkeiten als Erklärung für eine – unterstellt – unwahre Aussage in Betracht zu ziehen sind (sog. hypothesengeleitete Diagnostik; Steller, MschrKrim 1988, 16 [19ff.]). Dazu können neben einer bewußten Falschaussage etwa auto- oder (bewußt) fremdsuggerierte Angaben gehören. Speziell bei kindlichen Zeugen besteht die Gefahr, daß diese ihre Angaben unbewußt ihrer eigenen Erinnerung zuwider verändern, um den von ihnen angenommenen Erwartungen eines Erwachsenen, der sie befragt, zu entsprechen oder um sich an dessen vermuteter größerer Kompetenz auszurichten (Gutachten Prof. Dr. F und Prof. Dr. S). Zu berücksichtigen sind allerdings nicht alle denkbaren, sondern nur die im konkreten Fall nach dem Stand der Ermittlungen realistisch erscheinenden Erklärungsmöglichkeiten (Gutachten Prof. Dr. F; Steller, Recht & Psychiatrie 1998, 11 [13f.]).

bb) Diesen grundlegenden Anforderungen wird das Erstgutachten nicht gerecht. Es erörtert zwar die Möglichkeiten der bewußten Falschbezichtigung des Angekl. sowie der fremdsuggestiven Beeinflussung der Zeugin. Jedoch bleibt – wie die Sachverständigen Prof. Dr. F und Prof. Dr. S übereinstimmend dargelegt haben – ungeprüft, ob die Zeugin möglicherweise vorhandene Erinnerungslücken infolge eines Bemühens um Konsistenz „konstruktiv geschlossen“ und so den von ihr als streng empfundenen Angekl. vor dem Hintergrund realer sexueller Übergriffe zu stark oder in zu großem Umfang belastet haben könnte. Zur Bildung der Hypothese unzutreffender Mehrbelastung hätte bei dieser Zeugin im Hinblick darauf Anlaß bestanden, daß einerseits die von ihr – wenig detailliert – behaupteten Taten teilweise bereits mehrere Jahre zurücklagen und sie bei deren Begehung noch sehr jung war, sie andererseits die Taten vor der Begutachtung bereits mehrfach in unterschiedlichen Gesprächssituationen geschildert hatte. Die Angaben erfolgten zudem überwiegend gegenüber Erwachsenen (Großmutter, Zeugen Jehovas, Polizei, Richter). Im Hinblick darauf hätte die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden müssen, daß der Zeugin im Rahmen der Gespräche und Befragungen – gegebenenfalls unzutreffende – Informationen vermittelt und von ihr nunmehr als eigene Erinnerung wiedergegeben wurden.

b) Bei der Begutachtung hat sich ein Sachverständiger ausschließlich methodischer Mittel zu bedienen, die dem jeweils aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden (Steller, MschrKrim 1988, 16 [24]). Die eingesetzten Test- und Untersuchungsverfahren müssen zudem durch die gebildeten Hypothesen indiziert, d.h. geeignet sein, zu deren Überprüfung beizutragen. Existieren mehrere anerkannte und indizierte Testverfahren, so steht deren Auswahl allerdings in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Daß der Sachverständige einen bestimmten Test, der ihm zur Verfügung steht, nicht anwendet, weil er ihn nicht für erforderlich hält, zeigt daher grundsätzlich nicht, daß seine Sachkunde zweifelhaft ist (BGH, StV 1989; BGH, bei: Pfeiffer, NStZ 1982, BGH, Urt. v. 21. 9. 1965 – 1 StR 269–65). Vielmehr bleibt es dem Sachverständigen überlassen, auf welchem Weg und auf welchen Grundlagen er sein Gutachten erarbeitet (st. Rspr.; BGH, JZ 1969, Seite 437, NJW 1970,Seite 1242f m.w. Nachw.; StV 1989, Seite 141. .

aa) Bei einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung werden jedoch regelmäßig die – vor allem bei der Exploration zur Sache gegenüber dem Sachverständigen gemachten – Angaben auf ihre inhaltliche Konsistenz zu überprüfen sein. Diesem aussagebezogenen Ansatz liegt die durch empirische Befunde gestützte Annahme zugrunde, daß zwischen der Schilderung eines wahren und der eines bewußt unwahren Geschehens ein grundlegender Unterschied bezüglich der jeweils zu erbringenden geistigen Leistung des Aussagenden besteht.

(1) Während einerseits ein Bericht aus dem Gedächtnis rekonstruiert wird, konstruiert andererseits eine (bewußt) lügende Person ihre Aussage aus ihrem gespeicherten Allgemeinwissen. Da es eine schwierige Aufgabe mit hohen Anforderungen an die kognitive Leistungsfähigkeit darstellt, eine Aussage über ein (komplexes) Geschehen ohne eigene Wahrnehmungsgrundlage zu erfinden und zudem über längere Zeiträume aufrechtzuerhalten, ist im zweiten Fall die Wahrscheinlichkeit beispielsweise nebensächlicher Details, sogenannter abgebrochener Handlungsketten, unerwarteter Komplikationen oder phänomengemäßer Schilderungen unverstandener Handlungselemente gering. Hinzu tritt das Bemühen der lügenden Person, auf sein Gegenüber glaubwürdig zu erscheinen. Daher besteht die begründete Erwartung, daß bewußt falsche Aussagen nur in geringem Ausmaß Selbstkorrekturen und -belastungen sowie das Zugeben von Erinnerungslücken enthalten. Zur Durchführung der Analyse der Aussagequalität sind auf der Basis der dargestellten Annahmen Merkmale zusammengestellt worden, denen indizielle Bedeutung für die Entscheidung zukommen kann, ob die Angaben der untersuchten Person auf tatsächlichem Erleben beruhen. Es handelt sich um aussageimmanente Qualitätsmerkmale (z.B. logische Konsistenz, quantitativer Detailreichtum, raum-zeitliche Verknüpfungen, Schilderung ausgefallener Einzelheiten und psychischer Vorgänge, Entlastung des Beschuldigten, deliktsspezifische Aussageelemente), deren Auftreten in einer Aussage als Hinweis auf die Glaubhaftigkeit der Angaben gilt (vgl. auch Bender–Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. 1, 2. Aufl., Rdnrn. 231ff.). Diese sogenannte Realkennzeichen können als grundsätzlich empirisch überprüft angesehen werden. Zwar handelt es sich um Indikatoren mit jeweils für sich genommen nur geringer Validität, d.h. mit durchschnittlich nur wenig über dem Zufallsniveau liegender Bedeutung. Eine gutachterliche Schlußfolgerung kann aber eine beträchtlich höhere Aussagekraft und damit Indizwert für die Glaubhaftigkeit zu beurteilender Angaben erlangen, wenn sie aus der Gesamtheit aller Indikatoren abgeleitet wird. Denn durch das Zusammenwirken der Indikatoren werden deren Fehleranteile insgesamt gesenkt. Diesem Umstand liegt das mathematisch und psychometrisch eingehend untersuchte Prinzip der Aggregation zugrunde (Gutachten Prof. Dr. F). Dementsprechend lagen die mit Realkennzeichen in Forschungsvorhaben erzielten Ergebnisse regelmäßig deutlich über dem Zufallsniveau. Allerdings bestanden dabei teilweise nicht unerhebliche Fehlerspannen. Inwieweit ihre Bedeutung bei Verwendung gegenüber Personen aus unterschiedlichen Altersgruppen differieren kann, ist völlig offen. Unabhängig davon dürfen die Realkennzeichen jedenfalls nicht schematisch angewandt werden. Ein zwingender Schluß von einem festgestellten Merkmal auf die Glaubhaftigkeit von Angaben der untersuchten Person ist keinesfalls möglich. Methodisch unzulässig ist es auch, aus dem Vorliegen einer bestimmten Anzahl von Merkmalen im Sinne eines Schwellenwertes auf die Qualität einer Aussage zu schließen. Nur im Einzelfall können auch einzelne Realkennzeichen ausreichen, um den Erlebnisbezug einer Aussage anzunehmen. Fehlen derartige Merkmale, kann umgekehrt nicht unbedingt eine bewußt unwahre Aussage angenommen werden, da dies durch verschiedene Faktoren (z.B. Angst, Erinnerungslücken) verursacht worden sein kann. Darüber hinaus ist stets zu beachten, daß die Realkennzeichen ungeeignet sind, zur Unterscheidung zwischen einer wahren und einer suggerierten Aussage beizutragen. Denn bei durch Suggestion verursachten Angaben bestehen die bereits dargelegten Gründe nicht, die eine unterschiedliche Qualität zwischen wahren und bewußt unwahren Aussagen verursachen können, da die aussagende Person sich weder als besonders glaubwürdig darstellen noch sich auf von ihr erdachte Umstände konzentrieren muß. Beispielsweise wird ein Kind seine Angaben, die objektiv nicht zutreffen, weil es sie unbewußt auf die Erwartungen des vernehmenden Erwachsenen ausgerichtet hat, subjektiv für wahr halten. Dementsprechend gibt es keine empirischen Belege dafür, daß sich erlebnisbasierte und suggerierte Aussagen in ihrer Qualität unterscheiden. Das Erstgutachten nimmt zwar eine Überprüfung der Qualität der Aussage der Zeugin vor. Angesichts der dabei festgestellten Detailarmut der beschriebenen einzelnen Sachverhalte wäre aber eine eingehendere Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Angaben der Zeugin mittels der merkmalsorientierten Aussageanalyse erforderlich gewesen.

(2) Während die Inhaltsanalyse sich mit der Qualität lediglich einer Aussage befaßt, geht es bei der Konstanzanalyse um das von einer Person gezeigte Aussageverhalten insgesamt. Es handelt sich dabei um ein wesentliches methodisches Element der Aussageanalyse, das im Erstgutachten angemessen angewendet wird. Die Konstanzanalyse bezieht sich insbesondere auf aussageübergreifende Qualitätsmerkmale, die sich aus dem Vergleich von Angaben über denselben Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten ergeben. Falls etwa ein Zeuge mehrfach vernommen worden ist, ist ein Aussagevergleich im Hinblick auf Übereinstimmungen, Widersprüche, Ergänzungen und Auslassungen vorzunehmen. Dabei stellt allerdings nicht jede Inkonstanz einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit der Angaben insgesamt dar. Vielmehr können vor allem Gedächtnisunsicherheiten eine hinreichende Erklärung für festgestellte Abweichungen darstellen (Gutachten Prof. Dr. S; s. auch Bender–Nack, Rdnrn. 289ff.).

bb) Das mit den dargelegten Methoden der Aussageanalyse gefundene Ergebnis gewinnt – schon wegen des nicht exakt bestimmbaren Wertes der einzelnen verwendeten Realkennzeichen – für die Glaubhaftigkeitsuntersuchung jedoch erst Bedeutung unter Berücksichtigung vor allem der spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen der untersuchten Person sowie der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Aussage. Speziell das Vorhandensein einzelner bei der Inhaltsanalyse verwendeter Realkennzeichen hängt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch von Merkmalen der untersuchten Person ab. Das erzielte Ergebnis ist deshalb insbesondere mit den Mitteln der Fehlerquellen- sowie der Kompetenzanalyse auf seinen Aussagewert dahingehend zu prüfen, ob eine – gegebenenfalls qualitativ hochwertige und infolgedessen einen Erlebnisbezug indizierende – Aussage nach aussagepsychologischen Kriterien als zuverlässig eingestuft werden kann.

1) Im Rahmen der Fehlerquellenanalyse wird es in Fällen, bei denen – wie hier – (auch unbewußt) fremdsuggestive Einflüsse in Erwägung zu ziehen sind, in aller Regel erforderlich sein, die Entstehung und Entwicklung der Aussage aufzuklären (vgl. Steller–Volbert, S. 24 [31f.]; Köhnken, MschrKrim 1997, 297). Hinzu kann die sogenannte Motivationsanalyse treten. Die Feststellung der Aussagegenese stellt insofern einen zentralen Analyseschritt dar (Gutachten Prof. Dr. S). Besonders dann, wenn es sich bei dem möglichen Tatopfer um ein (jüngeres) Kind handelt, werden zu diesem Zweck die Angaben der Personen, denen gegenüber es sich zu den Tatvorwürfen geäußert hat (z.B. Eltern, Lehrer), zu berücksichtigen sein (BGH, StV 1995, STV Jahr 1995 Seite 451; Scholz–Endres, NStZ 1995, NSTZ Jahr 1995 Seite 6 [NSTZ Jahr 1995 Seite 10]). Einer derartigen fremdanamnestischen Befragung Dritter kann darüber hinaus – wenigstens bei Kindern im Vor- und Grundschulalter – auch zur biographischen Rekonstruktion Bedeutung zukommen. Solche Angaben Dritter hat die Sachverständige im Rahmen der Begutachtung eingeholt. Sie hat ausweislich ihres Gutachtens nicht nur Großmutter, Mutter und eine Lehrerin der Zeugin zur Vorbereitung ihres schriftlichen Gutachtens „informatorisch angehört“, sondern auch – wie sich dem von der Revision mitgeteilten Ablehnungsbeschluß des LG entnehmen läßt – die Angaben der in der Hauptverhandlung vernommenen Mitschülerin berücksichtigt, der gegenüber sie nach den getroffenen Feststellungen erstmalig den Angekl. sexueller Handlungen beschuldigt hatte.

Liegt danach ein fachlicher, gegen ihre Sachkunde sprechender Fehler der Erstgutachterin entgegen der Ansicht der Revision in diesem Zusammenhang nicht vor, erscheinen dem Senat jedoch die von ihr durchgeführten „informatorischen Anhörungen“ im Vorfeld der Hauptverhandlung rechtlich problematisch. Eine derartige Vorgehensweise ist allerdings bislang grundsätzlich als zulässig angesehen worden (BGHSt 9, 292 [296] = NJW 1956, Seite 1526; BGHSt 13, 1 [2f.] = NJW 1959, Seite 826, siehe auch Cabanis, NJW 1978, Seite 2329 ]). Der Senat läßt ausdrücklich offen, ob dem trotz erheblicher strafprozessualer und rechtstatsächlicher Einwände (vgl. Eisenberg, Rdnr. 1873; Schlothauer, in: Greuel–Fabian–Stadler, Psychologie der Zeugenaussage, S. 145f.) weiterhin zu folgen ist. Die prozessual jedenfalls nicht zu beanstandende Verfahrensweise ergibt sich aus § 80 StPO (ebenso BGH, GA 1963, Seite 18, BGH, Urt. v. 21. 7. 1965 – 2 StR 229–65; ferner BGH, StV 1995, Seite 564, Eisenberg, Rdnr. 1589; Schreiber, in: Venzlaff, Psychiatrische Begutachtung, S. 161f.). Danach hat der Sachverständige, der die Befragung weiterer Zeugen zur Vorbereitung seines Gutachtens für erforderlich hält, bei StA oder Gericht auf deren Vernehmung hinzuwirken, bei der ihm gem. § 80 Absatz 2 StPO  StPO ein Anwesenheits- und Fragerecht zusteht. Dies gilt in besonderem Maße in bezug auf zeugnis- und auskunftsverweigerungsberechtigte Personen. Unabhängig davon ist die StA jedoch ohnehin gehalten, alle Umstände, die für die Glaubwürdigkeit eines Kindes oder Jugendlichen bedeutsam sind, möglichst früh festzustellen und zu diesem Zweck insoweit vor allem Eltern und Lehrer zu befragen (Nr. 19 II RiStBV). Beim Verdacht einer an einem Kind begangenen Sexualstraftat ist es zudem empfehlenswert, wenn schon zu dessen erster Vernehmung ein Sachverständiger beigezogen wird, der über besondere Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der Kinderpsychologie verfügt (Nr. 222 I RiStBV). Die Motivationsanalyse zielt vor allem auf die Feststellung möglicher Motive für eine unzutreffende Belastung des Beschuldigten durch einen Zeugen ab (dazu Bender–Nack, Rdnrn. 181ff.). Wesentliche Anhaltspunkte für potentielle Belastungsmotive können etwa der Untersuchung der Beziehung zwischen dem Zeugen und dem von ihm Beschuldigten entnommen werden. Besondere Bedeutung kann auch der Frage zukommen, welche Konsequenzen der erhobene Vorwurf für die Beteiligten oder für Dritte nach sich ziehen kann. Jedoch kann aus einer festgestellten Belastungsmotivation beim Zeugen nicht zwingend auf das Vorliegen einer Falschaussage geschlossen werden.

(2) Im Wege der Kompetenzanalyse ist zu prüfen, ob eineso gefundene Aussagequalität namentlich durch sogenannte Parallelerlebnisse oder reine Erfindung erklärbar sein könnte. Dazu bedarf es der Beurteilung der persönlichen Kompetenz der aussagenden Person, insbesondere seiner allgemeinen und sprachlichen intellektuellen Leistungsfähigkeit sowie seiner Kenntnisse in bezug auf den Bereich, dem der erhobene Tatvorwurf zuzurechnen ist (z.B. Sexualdelikte). Die daher unter Berücksichtigung des konkreten Tatvorwurfs vorzunehmende Prüfung dieser Fähigkeiten einschließlich eventueller aussagerelevanter Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung des Untersuchten (etwa Selbstwertprobleme, gesteigertes Geltungsbedürfnis) erfolgt üblicherweise mit den allgemeinen Methoden psychologischer Diagnostik (z.B. Befragung, Beobachtung, Tests, Fragebögen). Deren Auswahl fällt – wie dargelegt – zwar grundsätzlich in die Zuständigkeit des Sachverständigen, so daß im Einzelfall auch der Einsatz sogenannter projektiver Verfahren hinzunehmen sein mag. Der Sachverständige hat aber dabei stets den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zu beachten.

Daraus ergibt sich: Im Bereich der Sexualdelikte bestehen Besonderheiten. Grundsätzlich wird die Durchführung einer Sexualanamnese in Betracht zu ziehen sein. Im Gegensatz dazu kommt der Ausdeutung von Kinderzeichnungen sowie der Deutung von Interaktionen, die Kinder unter Einsatz sogenannter anatomisch korrekter Puppen darstellen, in forensisch-aussagepsychologischen Gutachten in diesem Zusammenhang keine Bedeutung zu (vgl. BGH, StV 1995, Seite 563, dezidiert ebenso Gutachten Prof. Dr. F und Prof. Dr. S; Endres–Scholz, NStZ 1995, Seite 8). Eine Sexualanamnese ist zwar nicht generell bei jeder Glaubhaftigkeitsbegutachtung bedeutsam. Vielmehr handelt es sich auch bei ihr um eine Untersuchungsmethode, deren Anwendung im pflichtgemäßen Ermessen des Sachverständigen steht (BGH, Urt. v. 26. 10. 1993 – 1 StR 401–93). Geht es aber um die Frage, ob ein Zeuge den Vorwurf an ihm begangener Sexualdelikte zutreffend erhebt, ist regelmäßig die Einschätzung seiner sexualbezogenen Kenntnisse und Erfahrungen notwendig (Gutachten Prof. Dr. F und Prof. Dr. S; s. auch Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 3. Aufl., S. 130; Venzlaff, in: Venzlaff, S. 131). Dies gilt zumindest bei Zeugen, bei denen – etwa aufgrund ihres Alters – entsprechendes Wissen nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann (Steller–Volbert, S. 23f.).

Diesem Erfordernis wird das Erstgutachten nicht gerecht. Es stellt lediglich fest, daß die 14jährige Zeugin „keinen Freund … hatte und nie fortging“. Darüber hinaus wird nur noch aus dem Umstand, daß die Zeugin eine Schwangerschaft für möglich hielt, obwohl nach ihren Angaben „schon länger kein Verkehr mehr stattgefunden haben sollte“, auf „nicht sehr präzises“ Aufklärungswissen geschlossen. Ob die Zeugin Kenntnisse über unmittelbare sexuelle Verhaltensweisen hatte, wird dagegen nicht erörtert. Dazu hätte – unabhängig von der Vielzahl heute bestehender Erkenntnisquellen – auch deshalb Anlaß bestanden, weil sich die Zeugin im schulischen Aufklärungsunterricht „sehr auffällig verhalten habe“. Welcher Art diese Auffälligkeiten waren, teilt das Gutachten nicht mit. Aus der im Rahmen der Begutachtung erfolgten Verwendung einer sogenannten Phantasieprobe allein läßt sich kein wesentlicher Mangel des Erstgutachtens herleiten. Es handelt sich dabei um ein wissenschaftlich eingeführtes Verfahren (vgl. Arntzen, S. 128f.), wenngleich seine Aussagekraft – jedenfalls angesichts der Detailarmut der Schilderungen der zu begutachtenden Zeugin – gering sein mag (Gutachten Prof. Dr. F und Prof. Dr. S). Besonders beim Einsatz von Phantasieproben (und vergleichbaren Verfahren) sind jedoch stets die Grenzen ihres Anwendungsbereichs zu beachten. Phantasieproben dienen der Prüfung, ob eine Person bei einer unzweifelhaft erfundenen Geschichte eine ebenso realistische, d.h. inhaltlich plausible und emotional getönte Darstellung erreichen kann wie bei dem Bericht des behaupteten Sachverhalts. Daher reicht ein solches Verfahren nach seiner Konzeption nicht aus, um die Möglichkeit einer durch Dritte induzierten Aussage zu prüfen. Denn bei Suggestibilität handelt es sich nicht um ein situationsübergreifendes, persönlichkeitsspezifisches Konstrukt, sondern um ein Phänomen, das nach heutigem Kenntnisstand durch eine Reihe von kognitiven und sozialpsychologischen Mechanismen beeinflußt wird. Diese Grenzen werden im Erstgutachten nicht beachtet. Die Phantasieprobe, nach dem Ausgeführten ein Verfahren zur Beurteilung einer Aussage, wird in unzulässiger Weise wie ein projektiver Persönlichkeitstest behandelt, indem vom Inhalt der berichteten Geschichten auf die persönliche Situation der Zeugin geschlossen wird.

Darüber hinaus erscheint es dem Senat bedenklich, daß die Sachverständige zur Prüfung der Gedächtnisleistungen eine sogenannte Verbalmerkprobe durchgeführt hat, die als Standardverfahren nicht eingeführt ist. Gleiches gilt für einen Test mit der Bezeichnung „Selbstbildnis“. Ob der Einsatz dieser Verfahren gegen anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse verstieß, kann allerdings nicht abschließend beurteilt werden, da Angaben zu deren Grundlagen, Methodik und konkreter Durchführung im Gutachten fehlen (vgl. zu diesem Mangel unten 2a). Zwei weitere verwendete Tests (Wartegg-Zeichentest und Baum-Zeichentest) weisen dagegen Mängel in den Gütekriterien auf.

c) Die Revision sieht schließlich einen weiteren, bei der Begutachtung begangenen fachlichen Fehler darin, daß die Erstgutachterin im Zusammenhang mit der Bewertung der Aussagen der Zeugin Ergebnisse einer an dieser durchgeführten gynäkologischen Untersuchung berücksichtigt hat. Dies mag unter Umständen im Hinblick auf die gesetzliche Aufgabenverteilung zwischen Gericht, dem allein die Beweiswürdigung obliegt, und Sachverständigem strafprozessual bedenklich sein. Der Senat vermag darin jedoch keine Verletzung des wissenschaftlichen Prinzips der Unabhängigkeit des zu erstattenden Gutachtens von sogenannten Außenkriterien zu erkennen. Vielmehr darf ein Sachverständiger Anknüpfungstatsachen, die er dem bestehenden Ermittlungsergebnis entnommen hat, in seinen Abwägungsprozeß einbeziehen (Gutachten Prof. Dr. S; Leferenz, in: Göppinger–Witter, Hdb. der forensischen Psychiatrie II, S. 1320), sofern diese Gegenstand der Hauptverhandlung waren.

2. Darstellung der Begutachtung. Die Darstellung der Begutachtung und der dabei erzielten Ergebnisse durch die Sachverständige genügt wissenschaftlichen Mindeststandards zum Teil ebenfalls nicht. Allerdings gilt auch insoweit der Grundsatz, daß es in erster Linie dem Sachverständigen überlassen ist, in welcher Art und Weise er sein Gutachten dem Gericht unterbreitet (vgl. BGH, Urt. v. 9. 12. 1980 – 5 StR 610–80). Dieser Grundsatz steht aber unter dem bedeutsamen Vorbehalt der Nachvollziehbarkeit und Transparenz der Begutachtung (Gutachten Prof. Dr. F und Prof. Dr. S; s. auch Greuel–Offe–Fabian–Wetzels–Fabian–Offe–Stadler, S. 245; Zuschlag, Das Gutachten des Sachverständigen, S. 4; Scholz–Endres, NStZ 1995, Seite 6)

Dies bedeutet einerseits, daß die diagnostischen Schlußfolgerungen vom Sachverständigen nach Möglichkeit für alle Verfahrensbeteiligten nachvollziehbar dargestellt werden müssen (BGH, StV 1989, Seite 141, Steller, MschrKrim 1988, 16 [18]), namentlich durch Benennung und Beschreibung der Anknüpfungs- und Befundtatsachen. Andererseits muß durch die Beteiligten – zumindest aber durch andere Sachverständige – überprüfbar sein, auf welchem Weg der Sachverständige zu den von ihm gefundenen Ergebnissen gelangt ist (BGH, bei: Dallinger, MDR 1976, Seite 17, Eisenberg, Rdnr. 1508).

Daraus folgt im einzelnen: a) Die der Begutachtung vom Sachverständigen zugrunde gelegten Hypothesen sind im Gutachten im einzelnen zu bezeichnen (Gutachten Prof. Dr. F; Greuel, Praxis der Rechtspsychologie, 1997, S. 160; Greuel–Offe–Fabian–Wetzels–Fabian–Offe–Stadler, S. 247). Die jeweils verwendeten Untersuchungsmethoden und Testverfahren sind zu benennen und zu den gebildeten Hypothesen in Bezug zu setzen, d.h. es muß deutlich gemacht werden, welche Fragestellung mit welchen Verfahren bearbeitet wurde und warum diese Verfahren methodisch indiziert waren (vgl. Steller, MschrKrim 1988, 18 [21]; s. auch die von der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen herausgegebenen Richtlinien für die Erstellung Psychologischer Gutachten, 1994, S. 8 u. 11f.).

Bei anerkannten psychologischen Diagnoseverfahren (z.B. Befragung, Beobachtung, Standardtests und -fragebögen) bedarf es allerdings regelmäßig keiner ausführlichen Erläuterung ihrer Konzeption und Methodik, da deren Überprüfbarkeit bereits durch allgemeine psychologische Quellen wie Testmanuale und Sekundärliteratur gewährleistet ist. Andere Verfahren müssen im Unterschied dazu im Gutachten dargestellt werden, um dem Nachvollziehbarkeits- und Transparenzgebot zu entsprechen (Gutachten Prof. Dr. S; Greuel–Offe–Fabian–Wetzels–Fabian–Offe–Stadler, S. 250). Nach diesen Maßstäben durfte sich die Erstgutachterin nicht darauf beschränken, in der Liste der „angewandten diagnostischen Maßnahmen“ die Stichwörter „Selbstbildnis“ und „Verbalmerkprobe“ ohne weitere Angaben zu erwähnen, da sich ohne nähere Beschreibung dieser Verfahren weder durch die Verfahrensbeteiligten noch durch andere Sachverständige beurteilen läßt, auf welche Weise vorgegangen wurde und welche Aussagekraft auf diesem Weg erzielten Ergebnissen beizumessen ist (vgl. zu nichtveröffentlichten oder nichtoffengelegten Testverfahren BGH, bei: Dallinger, MDR 1976, Seite 17; BGH, StV 1989, 141; Gollwitzer, Rdnr. 310). In diesem Zusammenhang fällt ins Gewicht, daß die – infolge der fehlenden Beschreibung der Verfahren nicht bekannte – zeitliche Länge eines Tests für dessen Ergebnisse relevant sein kann und daher ebenfalls benannt werden sollte (Gutachten Prof. Dr. F; s. auch Greuel–Offe–Fabian–Wetzels–Fabian–Offe–Stadler, S. 246f.; Venzlaff, S. 129).

b) Auch der erste, „zur Persönlichkeit unter besonderer Berücksichtigung der Zeugeneignung“ verfaßte Teil des Gutachtens entspricht nicht dem Gebot der Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Da in ihm keine Trennung von – ohnehin ausgesprochen knappem – Datenbericht einerseits und psychologischer Interpretation andererseits vorgenommen wird, ist eine Überprüfung der von der Erstgutachterin hinsichtlich verschiedener Aspekte der Persönlichkeit der Zeu-gin gezogenen Schlußfolgerungen nicht möglich (Gutachten Prof. Dr. S; Greuel–Offe–Fabian–Wetzels–Fabian–Offe–Stadler, S. 248f. [251]).

c) Nicht zu beanstanden ist es dagegen, daß die Sachverständige im Gutachten nicht alle Inhalte und Ergebnisse der von ihr durchgeführten „diagnostischen Maßnahmen“ im einzelnen angeführt hat.

aa) Allerdings kann es im Einzelfall notwendig sein, alle vom Untersuchten erzielten Testergebnisse den Prozeßbeteiligten mitzuteilen, um ihnen so die Überprüfung der vom Sachverständigen aus diesen Befunden gezogenen Schlußfolgerungen zu ermöglichen (Gutachten Prof. Dr. F). In der Regel wird es jedoch genügen, die wesentlichen Ergebnisse zu benennen und zu interpretieren, nämlich diejenigen, die sich bei Durchführung der Begutachtung für die Erfüllung des Gutachtenauftrags als wichtig erwiesen haben (Gutachten Prof. Dr. S; Zuschlag, S. 123; ebenso die Richtlinien für die Erstellung Psychologischer Gutachten).

Wählt der Sachverständige diese Darstellungsweise, ist dies daher grundsätzlich nicht zu beanstanden. Er muß in diesem Fall – entsprechend dem wissenschaftlichen Transparenzgebot – aber sonstige Testergebnisse angeben und belegen können, sofern sich in der Hauptverhandlung nach den Maßstäben des § 244 Absatz 2 StPO insofern Aufklärungsbedarf ergibt (BGH, StV 1989, Seite 141; Greuel–Offe–Fabian–Wetzels–Fabian–Offe–Stadler, S. 274). Dies steht nicht im Widerspruch zur Rechtsansicht des 3. Strafsenats des BGH, der lediglich einen unbedingten, keinen Beschränkungen unterliegenden Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf Vorlage und Zugänglichmachung sämtlicher zur Vorbereitung des Gutachtens dienender Arbeitsunterlagen eines Sachverständigen verneint hat (BGH, StV 1995, Seite 565).

bb) Entsprechende Maßstäbe gelten für die Mitschriften und die – mit dem Einverständnis des Untersuchten – im Interesse einer besseren Dokumentation in der Regel zu erstellenden Audio- und gegebenenfalls Videoaufnahmen (krit. Arntzen, S. 141) der Exploration zur Sache, die zur Vermeidung von Erinnerungsverfälschungen bei der Analyse und Bewertung der Bekundungen anzufertigen sind, weil jedenfalls die Durchführung der Aussageanalyse bei komplexen Sachverhalten ohne verwendbare Aufzeichnung des Ablaufs der Exploration als nicht möglich erscheint (Gutachten Prof. Dr. S; Eisenberg, Rdnr. 1798; Greuel–Offe–Fabian–Wetzels–Fabian–Offe–Stadler, S. 68 [251]; Steller–Volbert, S. 27; Deckers, NJW 1988, Seite 1369).

Das bedeutet aber nicht, daß das Explorationsgespräch im Gutachten unbedingt vollständig wiederzugeben ist. Ausreichend und wegen der größeren Übersichtlichkeit vorzugswürdig ist ein Bericht, der das Gespräch nur insoweit wörtlich – gegebenenfalls unter Schilderung von Ablauf und Begleitumständen – darstellt, wie es für die Bearbeitung des Gutachtenauftrags von Bedeutung ist. Insofern gilt nichts anderes als für die entsprechende Darstellung in den schriftlichen Urteilsgründen (vgl. BGH, NStZ 1996, Seite 383). Im übrigen sind die bezeichneten Materialien – wenigstens bis zur Rechtskraft des Urteils, im Hinblick auf eine eventuelle Wiederaufnahme des Verfahrens besser darüber hinaus – aufzubewahren und bei Bedarf in der Hauptverhandlung nach den Maßstäben der gerichtlichen Aufklärungspflicht vorzulegen (s. auch Zuschlag, S. 123).

III. Auf der nach allem fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrags auf Zuziehung eines weiteren Gutachters beruht das Urteil auch. Es ist daher aufzuheben. Daß das LG die – im übrigen auf anderthalb Seiten der Urteilsgründe dargelegten – Ausführungen der Sachverständigen als „für die Überzeugungsbildung“ ohne Bedeutung angesehen hat, ändert daran nichts. Denn angesichts der Mängel des Erstgutachtens ist es möglich, daß ein weiterer Sachverständiger bei beanstandungsfreier Anwendung wissenschaftlich anerkannter Methodik zu einer anderen Einschätzung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin gelangt wäre. Der Senat vermag nicht auszuschließen, daß sich dies auf die landgerichtliche Beweiswürdigung ausgewirkt hätte und das Urteil anders ausgefallen wäre (vgl. BGH, GA 1955, Seite 269). Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

Allgemein bemerkt der Senat: Hält der Tatrichter ausnahmsweise die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens für erforderlich, so fällt es grundsätzlich in seine Zuständigkeit, insofern die Einhaltung der dargelegten wissenschaftlichen Mindestanforderungen sicherzustellen. Zu diesem Zweck wird er gegebenenfalls von seiner Befugnis Gebrauch zu machen haben, die Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten, § 8 StPO.. In diesem Zusammenhang kann neben einer präzisen Auftragsbeschreibung insbesondere die Mitteilung der Anknüpfungstatsachen, von denen das Gutachten ausgehen soll, dienlich sein. Einer ins einzelne gehenden Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der erfolgten Begutachtung in den Urteilsgründen bedarf es regelmäßig nicht. Es reicht aus, daß die diesbezüglichen Ausführungen die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weise enthalten, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich sind (BGH, NStZ 1996, Seite 383).

Hält ein Prozeßbeteiligter die wissenschaftlichen Anforderungen dagegen für nicht erfüllt, wird er noch in der Tatsacheninstanz auf die Bestellung eines weiteren Sachverständigen hinzuwirken haben. Will das Gericht einem dahingehenden Beweisantrag nicht entsprechen, bedarf es – wie dargelegt – einer ausführlichen Begründung des Ablehnungsbeschlusses regelmäßig nur dann, wenn der Antragsteller einen Mangel des Erstgutachtens konkret vorgetragen hat. Ist dies geschehen, wird es aber vor einer Entscheidung über einen derartigen Antrag naheliegen, den Erstgutachter zu dem behaupteten Mangel zu hören und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.