Bundesgerichtshof: Vertretungslehrer begeht keinen sexuellen Mißbrauch

Ein heikler Fall: Kann ein Lehrer, der eine Schülerin nur in einigen Fällen als Vertretungslehrer unterrichtet hat und sie ansonsten nur innerhalb einer freiwilligen außerschulischen Arbeitsgemeinschaft betreut, sexuellen Mißbrauch begehen? Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Landgerichts in diesem Fall aufgehoben, weil es ihm hierzu an ausreichenden Feststellungen fehlte. Ein Beispiel für die in der Praxis der Verteidigung von Sexualstraftaten oft wichtigen Frage nach dem notwendigen „Obhutsverhältnis“ des § 174 StGB StGB

BGH,Beschluss vom25. 4. 2012-4 StR 74/12(LG Bochum)

Zum Sachverhalt:

Der Angekl. war vom Jahr 2000 bis zu seiner Suspendierung vom Dienst am 11. 3. 2011 Sport- und Erdkundelehrer an einer Realschule. Zusätzlich bildete er für das Deutsche Rote Kreuz seit dem Jahr 2002 im Rahmen eines zusätzlichen, von ihm im Einvernehmen mit Schulaufsicht und Schulleitung eingerichteten freiwilligen Schulsanitätsdienstes Schüler und Schülerinnen ab der Klassenstufe 6 zu Schulsanitätern aus. Dabei handelte es sich um ein zusätzliches Angebot der Schule außerhalb des verpflichtend erteilten Unterrichts in Form einer Arbeitsgemeinschaft, weshalb eine Teilnahme daran lediglich ohne Benotung im Zeugnis vermerkt wurde. Der Angekl. war ferner von 2003/2004 bis zum 31. 12. 2010 Leiter des Deutschen Jugend-Rot-Kreuzes (DJRK) in W. Die im Tatzeitraum (22. 10. 2010 bis 4. 3. 2011) überwiegend 14 und zuletzt 15 Jahre alte Geschädigte besuchte die Realschule, an der der Angekl. tätig war. Er war jedoch weder ihr Klassenlehrer noch unterrichtete er sie, von Vertretungsfällen in nicht näher festgestelltem Umfang abgesehen, in einem bestimmten Fach. Seit dem Jahr 2008 nahm die Geschädigte an dem vom Angekl. veranstalteten Schulsanitätsdienst sowie – in ihrer Freizeit – an den von ihm geleiteten Gruppenstunden im DJRK in W. teil.

Infolge der Trennung ihrer Mutter von ihrem Stiefvater, mit dem sie ein sehr enges Vertrauensverhältnis verbunden hatte, entwickelte die Geschädigte seit Februar 2009 eine massive Essstörung und magerte erheblich ab. Im Sommer 2010 aß sie fast nichts mehr und begann, sich durch Ritzen selbst zu verletzen. Zwischen dem Angekl., der ihre schlechte Verfassung bemerkt und ihr seine Hilfe angeboten hatte, und der Geschädigten, die sich daraufhin dem Angekl. zuwandte und ihm rückhaltlos von ihren privaten Problemen berichtete, entstand in der Folgezeit eine enge persönliche Beziehung, in der es nach dem Austausch bloßer Zärtlichkeiten in der Zeit vom 22. 10. 2010 bis zum 4. 3. 2011 zu den abgeurteilten sexuellen Handlungen kam. Der Angekl. gab der Geschädigten in einem Fall einen Zungenkuss, veranlasste sie in 3 Fällen dazu, bei ihm den Oralverkehr auszuführen und führte in 8 Fällen den vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr durch, in einem Fall zusätzlich den Analverkehr.

2. Das LG hat angenommen, die Geschädigte sei dem Angekl. in dessen Eigenschaft als Lehrer zur Erziehung und zur Ausbildung i.S.d. § STGB § 174 STGB § 174 Absatz I Nr. 1 StGB anvertraut gewesen, auch wenn er sie nicht selbst unterrichtet, sondern allenfalls Vertretungsstunden in ihrer Klasse gegeben habe. Er habe sie außerdem im Rahmen des Schulsanitätsdienstes, also aus Anlass einer schulischen Veranstaltung, ausgebildet und sei auch als Leiter einer Jugendgruppe beim DJRK ihr Ausbilder gewesen.

Das LG hat den Angekl. wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 12 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision des Angekl., mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügte, hatte im Wesentlichen Erfolg.

Aus den Gründen:

II. Die Annahme eines Obhutsverhältnisses i.S.d. § 174 Absatz 1 Nummer 1 Nr. 1 StGB wird von den bisherigen Feststellungen des LG nicht getragen.

1. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das LG angenommen, dass die berufliche Stellung des Angekl. als Lehrer an der Schule, die die Geschädigte als Schülerin besuchte, ein Obhutsverhältnis zu ihr unter bestimmten Voraussetzungen ebenso zu begründen vermag wie seine Tätigkeit als Veranstalter der von der Geschädigten wahrgenommenen Arbeitsgemeinschaft „Schulsanitätsdienst” oder als Leiter einer Jugendgruppe beim DJRK, deren Mitglied die Geschädigte war. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ist Voraussetzung eines Obhutsverhältnisses i.S.d. §§ 174 Absatz 1 Nummer 1 Nr. 11 StGB eine Beziehung zwischen Täter und Opfer, aus der sich für den Täter das Recht und die Pflicht ergibt, Erziehung, Ausbildung oder Lebensführung des Schutzbefohlenen und damit dessen geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten (vgl. nur BGH Beschl. v. 31. 1. 1967 – BGH 1 StR/595/65, BGHSt 21, Seite 196, NStZ 2003, Seite 661). Ein die Anforderungen der Vorschrift erfüllendes Anvertrautsein setzt ein den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich erfassendes Abhängigkeitsverhältnis des Jugendlichen zu dem jeweiligen Betreuer im Sinne einer Unter- und Überordnung voraus (BGH Beschl. v. 21. 4. 1995 –3 StR 526/94, BGHSt 41, Seite 137). Es kann daher außer im schulischen Bereich auch in anderen, den Verhältnissen an einer Schule vergleichbaren Fällen vorliegen, etwa im Einzel- oder im Mannschaftssport (BGH Urt. v. 3. 4. 1962 – BGHSt 17 Seite 191[Fußballtrainer]; Senatsbeschl. v. 26. 6. 2003 aaO [Tennistrainer]), ebenso in einem anderweitigen Ausbildungsverhältnis (BGH Beschl. v. 31. 1. 1967 aaO [Fahrlehrer]). Maßgebend sind indes in jedem Fall die konkreten, tatsächlichen Verhältnisse (BGH Urt. v. 30. 10. 1963 – BGHSt 19,Seite 163,  Beschl. v. 31. 1. 1967 aaO, S. 202; Senatsbeschl. v. 26. 6. 2003, aaO; SSW-StGB-Wolters § 174 Rn 6). Mag sich daher die Obhutsbeziehung mit dem von der Strafvorschrift vorausgesetzten Anvertrautsein bei einem Lehrer im Verhältnis zu den von ihm als Klassen- oder Fachlehrer unterrichteten Schülern von selbst verstehen, kann es bei Vorliegen anderer Fallgestaltungen genauerer Darlegung der erforderlichen Voraussetzungen bedürfen. So liegt es hier.

2. a) Nach den Feststellungen des LG war der Angekl. weder Klassen- noch Fachlehrer in der Klasse der Geschädigten, sondern erteilte lediglich Vertretungsunterricht. Danach versteht sich insoweit ein Obhutsverhältnis nicht von selbst. Jedenfalls an größeren Schulen mit einem für den einzelnen Schüler nur schwer überschaubaren Lehrerkollegium ergibt es sich nicht schon aus der bloßen Zugehörigkeit von Lehrern und Schülern zu derselben Schule, sondern regelmäßig erst mit der Zuweisung eines Schülers an einen bestimmten Lehrer, der dadurch die in §§ 174 Absatz 1 Nummer 1 Nr. 1  StGB vorausgesetzten Pflichten übernimmt (so BGH Urt. v. 30. 10. 1963, aaO; anders für den Leiter einer Schule BGH Urt. v. 24. 11. 1959 – BGHSt 13, Seite 352 Welchen Umfang die Vertretungstätigkeit des Angekl. in der Klasse der Geschädigten hatte, ergibt sich aus den Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht.

b) Zwar kann die Annahme eines Obhutsverhältnisses zwischen Lehrer und Schüler auch unabhängig von der eigentlichen Unterrichtserteilung entstehen, etwa bei Aufsichtstätigkeiten oder im Rahmen besonderer Veranstaltungen der Schule, zu denen auch die Durchführung einer von den Schulbehörden genehmigten, nicht zum regulären Unterricht zählenden Arbeitsgemeinschaft zählt. Ob die Ausrichtung des Schulsanitätsdienstes unter der persönlichen Leitung des Angekl. die Voraussetzungen einer solchen Obhutsbeziehung erfüllt, ist jedoch ebenfalls nicht ausreichend dargetan. Zwar steht dem die Freiwilligkeit der Teilnahme an dieser Veranstaltung nicht entgegen (BGH Urt. v. 3. 4. 1962 – BGH 5 StR 74/62, BGHSt 17, SEite 191 . Gleichwohl fehlt es an näheren Feststellungen zur Häufigkeit der Durchführung und dazu, ob der Angekl. diese Arbeitsgemeinschaft auch noch nach seinem Ausscheiden aus dem DJRK mit Ablauf des 31. 12. 2010 fortführte.

Insoweit begegnet es auch durchgreifenden rechtlichen Bedenken, wenn die StrK die Tätigkeit des Angekl. als Leiter einer Gruppe im DJRK, der auch die Geschädigte angehörte, zur Begründung des Obhutsverhältnisses herangezogen hat. Wie bereits erwähnt, beendete der Angekl. diese Tätigkeit mit Ende des Jahres 2010; jedenfalls die Taten in den Fällen II. 6 bis II. 12 der Urteilsgründe, die die StrK zeitlich nach dem ersten Geschlechtsverkehr („an einem nicht näher bestimmbaren Donnerstag im Dezember 2010 oder Januar 2011”) einordnet, ereigneten sich demnach in einem Zeitraum, in dem der Angekl. beim DJRK nicht mehr tätig war. Ein „nachwirkendes” Obhutsverhältnis erfüllt den Tatbestand des §§ 174 Absatz 1 Nummer 1 Nr. 1 StGB nicht (Senatsbeschl. v. 26. 6. 2003, NStZ 2003, Seite 661)