Anwalt für Sexualstrafrecht in Berlin, Fachanwalt für Strafrecht und Strafverteidiger mit über 25 Jahren Erfahrung im Sexualstrafrecht.

Videovernehmung im Ermittlungsverfahren: Abspielen einer Videoaufzeichnung statt Zeugenbefragung?

Der Bundesgerichtshof hat ein Urteil des Landgerichts Braunschweig aufgehoben, mit dem ein Angeklagter zu einer Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren verurteilt wurde. Die geschädigte Zeugin selbst wurde in der Verhandlung nicht gehört. Dem liegt eine Besonderheit in Sexualstrafverfahren (Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, sexuelle Nötigung) zugrunde, wonach Zeuginnen bereits vor der eigentlichen Hauptverhandlung – in Anwesenheit des Verteidigers – durch einen Ermittlungsrichter vernommen werden können.

Die Videoaufzeichnung wird in der Hauptverhandlung abgespielt, die Zeugin selbst nicht mehr befragt (§ 255a StPO). Grund dieses Verfahrens soll der Schutz von Zeuginnen sein. In der Praxis sich diese Idee aus meiner Sicht als Verteidiger in Sexualstrafsachen allerdings als nicht so effektiv dar, wie sich die Gesetzgebung das wünscht. § 58a StPO regelt die „Videovernehmung“ von Zeugen durch Richter/innen im Ermittlungsverfahren.

Besonders in Sexualstrafverfahren kommt aber nicht nur der Aussage von Zeuginnen, sondern auch der Aussage des Beschuldigten besonderes Gewicht zu. Daher muss sich die Verteidigung – insbesondere bei dem Vorwurf einer Vergewaltigung oder eines sexuellen Übergriffs – gut überlegen, ob und wann für den Mandanten eine Erklärung zu den Vorwürfen („Einlassung“) abgegeben wird.

Ist absehbar, dass nach der polizeilichen Vernehmung der Zeugin eine Videovernehmung durch den Ermittlungsrichter ansteht, sollte insbesondere diese Vernehmung abgewartet werden, bevor die Entscheidung über Angaben des Mandanten zu den Tatvorwürfen getroffen wird. Gerade dieser Umstand führt aber dazu, dass durch die Angaben des Mandanten wiederum Fragen aufkommen, die der Zeugin in der Hauptverhandlung gestellt werden müssen. So kommt es dann möglicherweise zu einer weiteren Vernehmung der Zeugin, die die „Videovernehmung“ im Ermittlungsverfahren ins Leere laufen lässt.

Im hier durch den BGH zu entscheidenden Fall wurde das Urteil übrigens aufgehoben, weil der Beschluss, mit dem das Landgericht das Abspielen der Videovernehmung begründet hat, keine Gründe enthielt.

Sollten Sie eine „Benachrichtigung“ von einer Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren durch ein Amtsgericht erhalten, müssen Sie sich unbedingt um die Beauftragung eines Verteidigers kümmern. Sonst drohen Nachteile, die im späteren Verfahren nicht mehr gut zu machen sind.

Hier kann der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 13. Dezember 2022 nachgelesen werden.