Die Schwierigkeiten der Beweiswürdigung in Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs: Die sogenannte „Überformung“ kindlicher Zeugenaussagen, Erinnerung an „körpernahe“ Ereignisse
Der Bundesgerichtshof hat ein Urteil des Landgerichts Frankenthal vollständig aufgehoben, weil die Beweiswürdigung nicht nachvollziehbar war. Die Verteidigung in Strafverfahren mit dem Vorwurf sexueller Missbrauch eines Kindes ist besonders anspruchsvoll. Das gilt aber auch für die Arbeit der Gerichte in solchen Fällen.
Im vorliegenden Fall hatte das Landgericht verschiedene, unter einander abweichende, Aussagen eines Kindes zu würdigen. Obwohl eine umfassende Videovernehmung zu einem für eine Verurteilung nicht ausreichendem Ergebnis kam, sah das Landgericht eine frühere Aussage als ausreichend an: Das Kind hatte gegenüber der Polizei und einem Arzt Angaben gemacht, die das Landgericht für glaubhaft hielt.
Dagegen war die spätere Aussage des Kindes aus Sicht des Landgerichts durch Einflussnahme von Erwachsenen „überformt“ worden; man meinte also nicht trennen zu können zwischen der echten Erinnerung des Kindes und den Angaben, die das Kind möglicherweise nur gemacht hat, weil Erwachsene mit ihm gesprochen oder ihm erklärt hatten, worauf es in einer Vernehmung ankommen könnte.
Diese Entscheidung des BGH zeigt auf, wie schwierig die Trennung zwischen vermeintlich belastbaren und weniger belastbaren Beweisen ist. Stellt ein Gericht zum Beispiel fest, dass eine kindliche Aussage durch den Einfluss Erwachsener verfälscht worden ist, muss auch die Frage behandelt werden, ab wann die Aussage beeinflusst war.
Daneben spielt in der Rechtsprechung das Erleben sogenannten „körpernahen Geschehens“ eine große Rolle. Wer etwas wörtlich „am eigenen Leib“ erlebt, sollte sich daran auch nach längerer Zeit gut erinnern können. Ist das nicht der Fall und werden zu diesen Erlebnissen abweichende Darstellungen abgegeben, ist bei der Beweiswürdigung große Vorsicht geboten. Verteidiger in Sexualstrafverfahren sollten diese Begrifflichkeiten beherrschen und die Rechtsprechung der Gerichte dazu kennen.
Hier kann der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 12. Oktober 2022 nachgelesen werden.