Freispruch vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs: Nur angeklagte Taten können verurteilt werden.
Mit Urteil vom 21. Oktober hat der Bundesgerichtshof eine Entscheidung des Landgerichts Stuttgart bestätigt. Dabei hat der BGH erneut klargestellt, dass auch im Falle eines Freispruchs vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs die Beweiswürdigung nur dann durch das Revisionsgericht beanstandet werden kann, wenn die Beweiswürdigung Verstöße gegen Gesetze der Logik oder gefestigte Erfahrungsgrundsätze verstößt oder Lücken aufweist.
Einen für die Verteidigung in Sexualstrafsachen sehr wichtigen Hinweis erteilt der BGH ebenfalls: Zu einer Verurteilung können nur solche Vorwürfe kommen, die auch in der Anklage entsprechend beschrieben sind. Weichen die in einer Gerichtsverhandlung festgestellten Tathandlungen und Tatzeitpunkte von dem in der Anklage beschriebenen Vorwurf ab, kann auf Grundlage dieser Anklage keine Verurteilung erfolgen.
Lesen Sie hier die Entscheidung:
1 StR 46/21
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom
20. Oktober 2021 in der Strafsache gegen
wegen des Vorwurfs des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
ECLI:DE:BGH:2021:201021U1STR46.21.0
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 20. Okto- ber 2021, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Raum,
Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Jäger,
Bellay,
Prof. Dr. Bär
und Dr. Leplow,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt ‒ in der Verhandlung ‒ als Verteidiger,
Rechtsanwalt ‒ in der Verhandlung ‒ als Vertreter des Nebenklägers,
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- Die Revision des Nebenklägers gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 4. November 2020 wird verworfen.
-
Der Nebenkläger hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Angeklagten dadurch erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen.
Gründe:
1
Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen. Gegen dieses Urteil wendet sich der Nebenkläger mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
I.
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1. Dem Angeklagten lag nach der Anklageschrift zur Last, im Zeitraum vom 15. Oktober 2001 bis 15. Oktober 2004 an 156 Wochenenden in mindestens 312 Fällen an dem am 15. Oktober 1990 geborenen Nebenkläger, dessen Alter von unter vierzehn Jahren ihm bekannt war, sexuelle Handlungen in seiner da- maligen Wohnung in M. vorgenommen zu haben. Dabei führte der Angeklagte an dem Nebenkläger entweder den Oralverkehr bis zu dessen Samener- guss oder der Angeklagte ließ sich mit dem Einverständnis des Nebenklägers bis zu dessen Samenerguss ohne Kondom anal penetrieren oder der Angeklagte führte beim Nebenkläger den ungeschützten analen Geschlechtsverkehr durch.
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Mit der Anklageerhebung sind weitere Einzelfälle des (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern nach §§ 176, 176a StGB aF außerhalb des Wochenendes ‒ etwa in den Ferien ‒ sowie Fälle des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen gemäß § 182 StGB ab dem 15. Oktober 2004 nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt worden.
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2. Das Landgericht konnte zwar feststellen, dass der Nebenkläger mehrfach, mindestens zweimal in der Wohnung des Angeklagten in M. übernachtete, aber deutlich häufiger in der Wohnung des Angeklagten in Mö. , die dieser erst am 6. September 2005 bezog. Im Verlauf der Übernachtungen tauschten der Angeklagte und der Nebenkläger sexuelle Handlungen aus, die in Mö. in wechselseitigem Analverkehr „gegipfelt“ haben sollen. Ob es bereits in M. im von der Anklage umfassten Tatzeitraum bis zum 15. Okto- ber 2004, mithin vor Vollendung des vierzehnten Lebensjahres des Nebenklägers, zu sexuellen Handlungen kam, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden waren, konnte das Landgericht aber nicht mit der für eine Verurteilung ausreichenden Sicherheit feststellen. Es hat den Angeklagten daher insgesamt aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Ob der Angeklagte im Anklagezeitraum vom 15. Oktober 2001 bis 15. Oktober 2004 in M. sexuelle Handlungen beging, die nicht mit einem Eindringen in den Körper verbunden waren und dem Tatbestand des § 176 StGB unterfallen, hat das Landgericht nicht geprüft. Es ist insoweit davon ausgegangen, dass solche Taten bereits verjährt sind.
II.
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Die Revision des Nebenklägers ist zulässig (§ 400 Abs. 1 StPO), aber unbegründet. Die dem Freispruch des Angeklagten zu Grunde liegende Beweiswürdigung hält rechtlicher Überprüfung stand.
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1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Spricht es einen Angeklagten frei, weil es Zweifel nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Insbesondere ist es ihm verwehrt, die Beweiswürdigung des Tatgerichts durch seine eigene zu ersetzen. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht insoweit Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, etwa hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes, wenn sie Lücken aufweist, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden. Ferner ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden oder sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, dass die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; z.B. BGH, Urteile vom 16. Dezember 2020 ‒ 2 StR 209/20 Rn. 11; vom 14. Oktober 2020 ‒ 1 StR 33/19 Rn. 24; vom 26. Mai 2009 ‒ 1 StR 597/08, BGHSt 54, 15 Rn. 9; vom 22. Mai 2019 ‒ 5 StR 36/19 Rn. 15; vom 6. Juni 2018 ‒ 2 StR 20/18 Rn. 14 und vom 1. Juli 2020 ‒ 2 StR 326/19 Rn. 8). Dabei müssen die Gründe auch eines freisprechenden Urteils nicht jeden irgendwie beweiserheblichen Umstand ausdrücklich würdigen. Das Maß der gebotenen Darlegung hängt von der jeweiligen Beweislage und insoweit von den Umständen des Einzelfalles ab (BGH, Urteile vom 18. Mai 2021 – 1 StR 144/20 Rn. 31 und vom 4. Juni 2019 ‒ 1 StR 585/17 Rn. 28).
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2. Solche Rechtsfehler liegen hier nicht vor. Insbesondere weist das angefochtene Urteil keinen durchgreifenden Darstellungs- oder Erörterungsmangel auf.
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In den prägnanten Ausführungen der Urteilsgründe werden vom Landgericht die Widersprüche in den Angaben des Nebenklägers bei der hier vorliegenden Konstellation von Aussage-gegen-Aussage klar aufgezeigt. Weitergehender Darstellung des gesamten Aussageverhaltens des Nebenklägers und weiterer Zeugen im Urteil bedurfte es daher hier nicht. So hat das Landgericht nach umfassender Beweiswürdigung festgestellt, dass der Angeklagte erst am 6. September 2005 nach Mö. umgezogen ist. Damit wohnte der Angeklagte nach dem Ende des hier verfahrensgegenständlichen Tatzeitraums bis zum 15. Oktober 2004 noch nahezu ein weiteres Jahr in M. . Da der Nebenkläger bei seiner Vernehmung selbst einräumt, dass er deutlich mehr in Mö. als in M. übernachtet habe und die „intensiveren Sachen“ in Mö. passiert seien sowie Analverkehr nur in der Wohnung in Mö. stattgefunden habe, haben sich für das Landgericht nicht zu überwindende Zweifel ergeben, ob es im angeklagten Tatzeitraum bereits vor dem 15. Oktober 2004 zu den der Anklage unterfallenden sexuellen Kontakten gekommen ist. Dies gilt umso mehr, als nach den Feststellungen des Landgerichts der Angeklagte und der Nebenkläger sich erst zwischen dem 1. Januar 2002 und dem 21. August 2002 – und damit deutlich später als in der Anklage angegeben ‒ kennenlernten und der Nebenkläger selbst keine genauere und widerspruchsfreie zeitliche Einordnung zum Zeitpunkt der ersten Übernachtung und zur Häufigkeit der Übernachtungen im Tatzeitraum leisten konnte. Hinzu kommt, dass alle vernommenen Zeugen übereinstimmend bestätigen, dass der Angeklagte den Nebenkläger stets mit einem VW Golf abholte und zurückbrachte, den der Angeklagte aber nach einem Kaufbeleg und der Auskunft der Zulassungsstelle erst im Dezember 2005 erwarb und auf sich zuließ. Damit ist die Beweiswürdigung des Landgerichts, dass erhebliche Zweifel nicht zu überwinden sind, ob der Angeklagte im angeklagten Tatzeitraum bereits die vorgeworfenen Taten beging, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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3. Wie vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend aufgezeigt, ist das Landgericht zwar rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass Taten des einfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176 Abs. 1 StGB aF, die vor dem 15. Oktober 2004 an den Wochenenden in M. begangen sein könnten, bereits verjährt sind. Dieser Rechtsfehler führt aber nicht zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung; denn ein solches Geschehen ohne ein Eindringen weicht so deutlich von den in der Anklageschrift bezeichneten Taten ab, dass sie sich nicht mehr als die von der Anklage bezeichneten Taten im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO darstellen. Damit besteht auch insoweit kein durchgreifender Erörterungsmangel des Landgerichts, auf dem das Urteil beruhen könnte.
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a) Gegenstand der Urteilsfindung sind nach § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichneten Taten, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellen. Nur diese sind Gegenstand der Urteilsfindung. Zwar hat das Gericht die angeklagten Taten im verfahrensrechtlichen Sinne erschöpfend abzuurteilen; hierzu gehört das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang darstellt. In diesem Rahmen muss das Tatgericht seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden. Diese Umgestaltung der Strafklage darf aber nicht dazu führen, dass die Identität der von der Anklage umfassten Tat nicht mehr gewahrt ist, weil das ihr zugrundeliegende Geschehen durch ein anderes ersetzt wird (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 27. Juli 2021 – 3 StR 195/21 Rn. 5 und vom 17. Dezember 2020 ‒ 3 StR 391/20 Rn. 7 mwN). Bei Se- rienstraftaten können der Ort und die Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die ihm innewohnende Richtung, also die Art und Weise der Tatverwirklichung, und das Opfer die Vielzahl der Fälle ausreichend konkretisieren, sodass nicht nur die Umgrenzungsfunktion gewahrt ist, sondern auch die Übereinstimmung von angeklagtem und ausgeurteiltem Sachverhalt überprüft werden kann (BGH, Be- schlüsse vom 27. Juli 2021 – 3 StR 195/21 Rn. 5 f. und vom 25. April 2019 ‒ 1 StR 665/18 Rn. 5 mwN).
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b) Gemessen hieran unterfallen etwaige Fälle des einfachen sexuellen Missbrauchs nach § 176 Abs. 1 StGB aF nicht dem angeklagten Tatgeschehen.
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Die Anklage der Staatsanwaltschaft bezieht sich ausschließlich auf Taten, die zwar nur ganz grob beschrieben und daher nicht einzeln individualisierbar sind. Alle angeklagten Taten sind aber hinsichtlich der Tatmodalitäten durch einen Oral- oder Analverkehr bis zum Samenerguss gekennzeichnet. Handlungen, die nicht mit einem Eindringen in den Körper verbunden waren, wie etwa ein vom Nebenkläger geschildertes „Streicheln“ durch den Angeklagten im Vorfeld der späteren Penetrationshandlung (UA S. 10), finden in der Anklageschrift keine Erwähnung. Derartige Geschehnisse unterscheiden sich derart deutlich im Blick auf die Tatmodalitäten von den angeklagten Taten, dass es an der Nämlichkeit der Taten fehlt. Insoweit handelt es sich um ganz andere sexuelle Handlungen als die in der Anklage geschilderten und weder – wie vom Generalbundesanwalt vertreten – lediglich um den Wegfall eines Qualifikationsmerkmals noch kleinere, die Tatmodalität noch wahrende Abweichungen; die Unterschiede sind vielmehr erheblich.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 StPO.
Raum Jäger Bellay
Bär Lepow
Vorinstanz:
Landgericht Stuttgart, 04.11.2020 – 26 Js 58008/19 14 KLs
Hier kann der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 20. Oktober 2021 ebenfalls nachgelesen werden.