BGH zu überhöhter Strafe bei dem Vorwurf sexueller Missbrauch

Der Bundesgerichtshof hat in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs über die Frage zu entscheiden gehabt, ob rechtstheoretische Überlegungen zur Bildung einer Gesamtstrafe herangezogen werden können.

Die klare Antwort ist: Nein! Auch in Verfahren mit dem Vorwurf sexueller Missbrauch sind Gerichte an die üblichen und gesetzlich festgelegten Kriterien gebunden. Die Höhe der Strafe muss überprüfbar und nachvollziehbar sein.

Lesen Sie hier die Entscheidung:

page1image49334592

1 StR 341/21

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS

vom

16. November 2021 in der Strafsache gegen

wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.

ECLI:DE:BGH:2021:161121B1STR341.21.0

page2image117839168

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts – zu 2. auf dessen Antrag – am 16. November 2021 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:

  1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge- richts Augsburg vom 11. Mai 2021 im Ausspruch über die Ge- samtstrafe aufgehoben.
  2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
  3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand- lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit- tels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurück- verwiesen.

Gründe:

1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in neun Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt. Die hiergegen mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sein Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Der Schuldspruch und der Ausspruch über die Einzelfreiheitsstrafen weisen keinen Rechtsfehler auf.

3

2. Der Gesamtstrafenausspruch von neun Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe hält hingegen sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

4

a) Das Landgericht hat zwar die Gesamtstrafe unter Erhöhung der Einsatzstrafe von drei Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe – bei weiteren Einzelstrafen von zweimal drei Jahren und sechs Monaten und sechsmal von zwei Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe im Ansatz entsprechend den rechtlichen Anforderungen des § 54 StGB gebildet. Zur Begründung der Höhe der Gesamtfreiheitsstrafe führt die Jugendkammer jedoch aus: „Die Kammer hat dabei trotz des engen zeitlichen und thematischen Zusammenhangs der Taten angesichts der Anzahl der Einzelfälle vorliegend eine mehrfache Erhöhung der Einsatzstrafe ausnahmsweise deshalb für sachgerecht erachtet, weil zwar die seit dem Fortfall des sogenannten Fortsetzungszusammenhangs notwendige Bewertung als rechtlich selbständige Taten regelmäßig nicht für den Angeklagten zu ungünstigeren Rechtsfolgen führen darf, er andererseits aber auch nicht gegenüber Tätern bei Fällen mit einem der vielfachen Tatbegehung vergleichbarem Unwert- gehalt, denen eine tateinheitliche Bewertung zugrunde liegt, privilegiert werden soll.“ (UA S. 66).

5

b) Diese – abstrakten – Erwägungen zur Begründung der Höhe der Gesamtstrafe sind rechtsfehlerhaft. Bei der Bildung der Gesamtstrafe gemäß § 54 StGB hat das Tatgericht vornehmlich die konkret festgestellten Taten und die Person des Angeklagten zu würdigen. Abstrakte Erwägungen zum Fortfall des Fortsetzungszusammenhangs mit Blick auf das Strafenniveau sind insoweit nicht geeignet, eine Schuldangemessenheit der Strafe zu begründen. Sie verstellen vielmehr den Blick hierfür. Zudem ist die Begründung des Landgerichts nicht nachvollziehbar, inwieweit die angestellten Überlegungen „ausnahmsweise“ eine mehrfache Erhöhung der Einsatzstrafe als „sachgerecht“ rechtfertigen sollen.

6

3. Dieser Rechtsfehler nötigt zur Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs. Die Feststellungen werden von diesem Wertungsfehler nicht berührt. Sie können daher bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststel- lungen kann das neue Tatgericht treffen, soweit sie zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.

 

Jäger Bellay Fischer

Hohoff Pernice

Vorinstanz:
Landgericht Augsburg, 11.05.2021 – J KLs 209 Js 132809/20 jug

Hier kann der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 16. November 2021 ebenfalls nachgelesen werden.